Der Skandal (German Edition)
du, was das war? Das waren Regeln.«
Er lässt das Gesagte wirken, bevor er Melvin ein Zeichen gibt. »Bringst du unseren Gast hinaus?«
»Bye«, sagt sie nur, und Big Dee ruft ihr noch hinterher: »Ich melde mich, sobald ich was weiß. Und … die Kontrollen, die hören auf, und zwar pronto!«
Sie hat nicht die leiseste Idee, wie sie das Muller – oder Brewer – klarmachen soll.
Sie hat Zeit, darüber nachzudenken, während sie in der schwarzen Limousine zum Präsidium zurückgebracht wird.
3
Panik steigt in Christina hoch, je näher sie ihrem Haus kommt.
Ihre Kehle ist trocken, ihr Magen rebelliert, ihr Herz fängt an zu rasen, das Blut schießt ihr in den Kopf, während ihre Hände und Füße eiskalt sind. Alles in ihr sträubt sich, gleich auszusteigen und ihr Haus zu betreten. Alles in ihr schreit Nein! Sie merkt, dass sie immer langsamer fährt, die Einfahrt, das Haus, die Garage rücken näher. Und dann ist sie da.
Es war erst gestern Abend. Und doch kommt es ihr vor, als wäre es in einem anderen Leben passiert. Während sie noch im Auto sitzt, will sie sich vormachen, dass sie die Zeit zurückdrehen kann, bloß um ein paar läppische Stunden. Was sind schon ein paar Stunden angesichts der Milliarden Jahre, seit die Erde existiert?
Schließlich stellt sie den Motor ab.
Du musst jetzt aussteigen, befiehlt ihr eine innere Stimme, dann duschst du schnell und ziehst dir etwas Frisches an. Danach fährst du in die Klinik, Jay wartet auf dich. Diese einfache Logik hilft ihr.
Sie steigt aus und geht zur Haustür.
Die Pizzakartons fallen ihr ein und dass Aaron vorhin angerufen und berichtet hat, dass der Pizzaservice Tims Anruf bestätigt hat: zwanzig Uhr fünf. Vierzig Minuten später klingelt der Bote an der Haustür, doch niemand macht auf. Nach vier Versuchen legt er die Kartons vor die Tür, denn die Bestellung ist bezahlt, er kann sie nicht wieder zurückbringen. Er ruft in der Zentrale an und gibt das durch. Um zwanzig Uhr fünfundvierzig ist der Täter offensichtlich schon im Haus, oder er hat es schon wieder verlassen …
Als sie die Diele betritt, fällt ihr Blick auf die Reisetasche ihres Bruders, sie steht immer noch unter der Garderobe, und einen Augenblick lang kann sie sich vormachen, dass er noch lebt, dass gar nichts passiert ist, dass sie sich den Horror bloß eingebildet hat.
Aber dann sagt ihr die Vernunft, dass Tim die Tasche schon vor drei Wochen dorthin gestellt hat, einen Tag nach seiner Nachricht Kann ich mich eine Weile bei dir einnisten?
Sie hat nicht gezögert. So ist es immer gewesen zwischen ihnen. Nie haben sie irgendwelche Erklärungen gebraucht.
Rita ist immer eifersüchtig gewesen auf Christina. Das hat Tim ihr an einem der Abende erzählt, nachdem er bei ihr eingezogen war. Er hat etwas Asiatisches gekocht, und sie haben bis spät abends in der Küche gesessen und geredet. »Rita braucht immer so viele Erklärungen«, hat er gesagt, »wir stolpern von einem Missverständnis ins andere.« Er hat den Kopf geschüttelt. »Ausgerechnet ich, dabei sollte ich doch wissen, wie man solche Probleme löst.«
Christina zieht ihre Jacke aus und will sie an die Garderobe hängen, doch dann zögert sie. Tims dunkler Mantel hängt noch dort. Und seine Wollmütze liegt oben auf der Ablage. Die hat er am Sonntag getragen, als er mit Jay zum Eislaufen gegangen ist. Jay war glücklich, dass Tim bei ihnen wohnte. Endlich war da jemand außer Grandma und Grandpa, der etwas mit ihm unternahm. Und sie hatte nicht mehr so oft ein schlechtes Gewissen, weil sie keine Zeit für ihn hatte.
Sie lauscht. Nein, der Fernseher läuft nicht. Ist ihr denn sonst nichts aufgefallen außer den Pizzakartons? Ein fremder Geruch vielleicht? Denk nach!, sagt sie sich, irgendetwas muss dir doch aufgefallen sein! Christina geht weiter in die Küche, so wie gestern Abend, hängt ihre Jacke über die Stuhllehne, auch so wie gestern Abend. Alles sieht genauso aus wie gestern, als wäre gar nichts passiert.
Christina nimmt sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Tim hat es noch gekauft, New Glarus , Spotted Cow . Er hat immer nur Bier von den lokalen Brauereien getrunken. Die muss man unterstützen .
Sie achtet auf so etwas nicht. Sie kauft das Bier irgendwo, auch den Wein. Erst durch Tim hat sie gelernt, dass es nicht nur Chardonnay gibt.
Sie trinkt einen Schluck und geht zurück in die Diele. Vor ihr gähnt der Durchgang zum Wohnzimmer. Sie weiß, Tim liegt nicht mehr dort, aber die Bilder sind dennoch in
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