Der Skandal (German Edition)
zujubeln, wenn er eine Rede hält über Arbeitsplätze und über Amerikas Vormachtstellung in der Welt. Wenn er sagt, wir werden die Welt nicht den Chinesen überlassen, erntet er regelmäßig tobenden Beifall. Und so was sagt er nicht nur – er tut auch was dafür. Das mit der Mine in Ashland zum Beispiel.
Aber seiner Mutter gegenüber fühlt er sich noch immer wie früher, als er ein kleiner Junge war.
Er atmet durch, wendet am Ende der Straße und fährt wieder hinauf zum Haus seiner Eltern, wo er und sein Bruder von ihrer Mutter zum Lunch erwartet werden. Früher hat ihre Mutter darauf bestanden, dass dieses Familienessen immer samstags stattgefunden hat, aber irgendwann ist diese Regel seinem engen Terminplan zum Opfer gefallen.
Das zweistöckige Haus mit den ausladenden Seitenflügeln wurde Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts aus dem berühmten braunen Sandstein gebaut, dem härtesten Sandstein der Welt. Damit wurde Chicago nach dem großen Brand im Oktober 1871 wieder aufgebaut. Das hat ihm neulich erst der Bürgermeister von Ashland wieder in Erinnerung gerufen. »Diesem Landstrich hier oben«, so hat er seine Rede angefangen, »hat Amerika so vieles zu verdanken.« Daraufhin hielt er eine zwanzigminütige historische Abhandlung über die Einwanderer aus Nordeuropa, die als Pelzhändler am Lake Superior arbeiteten und für immensen Reichtum sorgten, dann folgte ein Abriss über die Holzindustrie in Nordwisconsin. »Vergessen wir nicht«, fuhr er fort – Ochs erinnert sich genau, er hat ein phänomenales Gedächtnis – »dass die berühmte White Pine, mit der die Städte Amerikas erbaut wurden, hier oben gefällt wurde.« Die Rede endete mit der Erzförderung, die vor zehn Jahren eingestellt wurde. »Die Zeiten haben sich geändert. Wir besitzen Bodenschätze. Warum sollten wir darauf verzichten und uns von Nationen abhängig machen, die unsere Ideale, all das, wofür Amerika seit Jahrhunderten gekämpft hat, mit Füßen treten?«
Diesen Satz hat Ochs letztes Jahr mehrmals in seine Reden eingebaut. Er konnte die Öffentlichkeit der betroffenen Regionen überzeugen und die Schürferlaubnis für Polycorp Minerals durchsetzen.
Das geht ihm durch den Kopf, während er den Wagen unter den schneebeladenen hohen Hemlocktannen parkt, die der Vater seiner Mutter gepflanzt hat. Ein Unternehmer mit Visionen, Mut, Tatkraft und mit dem unerschütterlichen Glauben daran, dass Amerika Gottes auserwähltes Land ist.
Er steigt aus. Sofort spürt er, wie kalt und klar die Luft ist. Er riecht den See, der gleich unterhalb des Hauses an einen kleinen Sandstrand leckt. Es ist wunderbar still. Die Stadt und ihr Verkehr, die Shoppingmalls, die Interstate scheinen weit entfernt zu sein. Es muss an dieser Weite des Grundstücks liegen und am See natürlich, dessen jenseitiges Ufer so weit weg ist, dass man es noch nicht einmal schemenhaft sehen kann.
Franks schwarzer Chevrolet Tahoe steht vor der Garage. Er ist wie immer als Erster da. Er hat ja auch keine Frau – und keine Geliebte, denkt Ochs beim Aussteigen. Er hat sich öfter gefragt, ob sein Bruder vielleicht schwul ist.
Würde Frank ihm die Wahrheit sagen? Er weiß es nicht. Vielleicht hätte Frank Angst, dass sein Bruder ihn verurteilen würde, oder, schlimmer noch, dass er es Mom sagen würde. Könnte Frank das glauben? Schon als Kinder haben sie ihre Geheimnisse geteilt und vor den Eltern bewahrt.
Er geht die Stufen zum Eingang hinauf, da öffnet sich auch schon die schwere Haustür.
Sein Bruder lacht ihn an. Er trägt einen roten Pullover mit V-Ausschnitt über einem weißen Hemd mit Krawatte und eine schmal geschnittene dunkelblaue Hose. Die karibische Sonne hat ihm einen goldfarbenen Teint verliehen und seine blonden, wenn auch etwas spärlichen Haare gebleicht.
»Du siehst gut aus. Wir sollten unsere Jobs tauschen«, sagt Ochs.
»Du und Anwalt?« Frank mustert ihn grinsend. »Vielleicht solltest du dir einfach mal ein paar Tage Urlaub in der Karibik gönnen – und eine andere Krawatte. Außerdem könntest du mal mit Jasmine über dein Outfit sprechen. Wofür hast du schließlich eine Beraterin?«
Ochs trägt maßgeschneiderte Anzüge, passende Hemden und, wie er meint, auch passende Krawatten.
»Mir gefällt es so. Es zeigt, wo ich stehe. Politisch, meine ich.«
»Carl!« Seine Mutter kommt in die vornehm große Eingangshalle. Sie ist klein und zierlich und trägt ein schlicht geschnittenes Kleid in hellen Grüntönen, es passt perfekt zu ihrem weißen
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