Der Skandal (German Edition)
wartet, ist sie immer noch in Gedanken bei Pete. Er hat sie hungrig gemacht. Und das ist nicht gut.
Der Aufzug ist leer. Im Spiegel kann sie sich noch einmal begutachten. Auf den ersten Blick findet sie sich gar nicht so übel. Schlank und groß, ein bisschen zu groß für manche Männer, aber sie ist froh, dass sie nicht immer zu ihnen aufblicken muss. Ihre Haare trägt sie offen. Sie hat endlich das neue Shampoo benutzt, das sie Weihnachten bekommen hat und das ihr Weizenblond noch strahlender macht – sodass man die ersten grauen Strähnen nicht so deutlich sieht.
Ihr Flower-Power-Lieblingskleid ist wahrscheinlich ein bisschen zu frühlingshaft für das Wetter – sie trägt ohnehin nur selten Kleider, und die anderen beiden sind noch in der Reinigung. Sie hat vergessen, sie abzuholen.
Am liebsten hätte sie ihren warmen Mantel angezogen, aber das geht nicht zu diesem Kleid, also hat sie sich für ihre sportliche Lederjacke entschieden – der Empfang wird ja wohl nicht draußen im Schnee stattfinden.
Die Leuchtziffer im Aufzug zeigt den 12. Stock an, und die Türen gleiten lautlos auseinander.
Sie presst die Handtasche unter den Arm. Da ein Schulterholster nicht zur Garderobe passt, steckt die Dienstwaffe da drin.
Die matte Glasscheibe mit dem dezenten Schriftzug Muller Engstroem Architects sieht nobel aus. Dahinter erwartet man etwas Modernes, Kreatives und Innovatives. Und Ruth Muller, denkt Christina, muss die banale Hässlichkeit eines städtischen Büros ertragen … Dabei könnte sie doch einfach nur die Ehefrau des erfolgreichen Architekten Adam Muller sein.
»Guten Abend, darf ich Sie um Ihre Einladung bitten?« Hinter der Glasscheibe kommt ein elegant gekleideter Türsteher auf sie zu. Keiner von diesen Typen, die man sich eher im Knast vorstellen kann.
»Mrs. Muller persönlich hat mich eingeladen.«
»Ihr Name bitte?«
»Andersson.«
Er blättert in einer Liste.
»Beth?«
»Nein. Christina.« Sie ist nun wirklich ungeduldig.
Hat Muller das beabsichtigt?
»Ah! Hier! Verzeihen Sie, sie hat Sie nachträglich handschriftlich eingetragen.« Er weist mit dem Arm in einen breiten Flur. Dort entlang bitte. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.«
Ich werde aus Muller einfach nicht schlau, denkt sie, während sie in eine Welt aus teuren Parfüms, Designerkleidern, gepflegtem Small Talk, Haifischlächeln – und zur Schau gestellten Eitelkeiten tritt. Hier gibt es keine hässlichen Menschen. Der Wohlstand hat sie in Schönheiten verwandelt.
»Christina!« Muller kommt auf sie zu. Sie lässt einen anerkennenden Blick über Christina gleiten. »Sie sehen gut aus!« Ein Kompliment aus Mullers Mund – das muss ich Rob erzählen …
Muller trägt ein schlichtes, eng anliegendes Kleid in Rubinrot, das genau an der richtigen Stelle über dem Knie endet, damit es elegant und sexy zugleich wirkt. Und das Rot bringt ihre dunklen Haare und die ausdrucksvollen Augen noch stärker zur Geltung. Captain Ruth Muller, darin sind sich alle einig, ist eine aparte Erscheinung – die dem Büro des Chief of Police zweifellos mehr Glanz verleihen würde als der Quadratschädel Milosz, denkt Christina.
»Wie geht es Jay?«
»Es geht. Meine Mutter ist bei ihm.«
»Kommen Sie, ich stelle Sie ein paar Leuten vor.« Bevor Christina etwas sagen kann, hat Muller sie sanft am Ellbogen gefasst und dirigiert sie direkt hinein in einen großen, in hellem Licht erstrahlenden Raum, durch den Kellner in langen Schürzen Tabletts mit Champagner und Häppchen zwischen den Gästen hindurchbalancieren. Gedämpfte Jazzmusik mischt sich mit Gelächter und Geplauder.
Alles sehr geschmackvoll – und so ganz anders als in der West State Street, findet Christina, als Muller mit ihr vor einem freundlich lächelnden Mann mit dunkler Hornbrille stehen bleibt.
»Christina, darf ich Ihnen meinen Mann vorstellen.« Adam Muller ist ein bisschen kleiner als Christina, er ist nicht dick, aber man sieht ihm an, dass er gerne gut isst und trinkt.
»Guten Abend«, sagt sie höflich.
Perfekt sitzender dunkler Anzug, weißes Hemd, kurz geschnittene Haare – so sieht ein erfolgreicher Architekt aus, innovativ, aber kompromissfähig, einer der auf dem schmalen Grad zwischen Kunst und Kommerz zu wandeln weiß.
»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Detective Andersson. Meine Frau hat mir schon viel von Ihnen erzählt!«
»Ja, das glaube ich«, kann sie sich nicht verkneifen zu erwidern. Er hat eine angenehme Stimme, sie klingt tief und voll.
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