Der Skandal (German Edition)
hätte es nicht mehr weit gehabt nach Hause. Wie gern hätte sie endlich mal wieder richtig geschlafen. Ihre Mutter hat ihr vorhin noch eine SMS geschickt und sie beruhigt, dass alles in Ordnung ist. Mit steif gefrorenen Fingern wählt sie die Nummer eines Abschleppdienstes.
Die Zentrale vertröstet sie, sie muss mindestens dreißig Minuten warten, wegen des Wetters. Dreißig Minuten – eine Ewigkeit. Ihr Versuch, ein Taxi zu rufen, scheitert, sie landet in einer endlosen Warteschleife. Sie setzt sich wieder hinters Steuer und schaltet die Warnblinkanlage ein. Das gleichmäßige Ticken lullt sie ein, und schließlich kann sie sich nicht mehr gegen die Müdigkeit wehren. Irgendetwas zieht sie tiefer und tiefer, schließlich gibt sie den Widerstand auf und schließt die Augen.
Ein Klopfen lässt sie aufschrecken. Grelles Licht scheint ihr direkt in die Augen.
»Hey!« Sie reißt die Hände vors Gesicht.
»Ma’am, Ihr Abschleppwagen!« Durchs Fenster glaubt sie ein Abzeichen auf einer Uniformjacke zu erkennen. Gott sei Dank! Zwei Sekunden später ist sie hellwach, sie macht die Tür auf und steigt aus.
»Guten Abend, Ma’am. Verfluchtes Wetter«, sagt der Mann und hebt seine Hand an die Schirmmütze.
»Allerdings. Der Reifen vorne links.«
»Haben Sie einen Ersatzreifen dabei?«
Sie entriegelt den Kofferraum und öffnet ihn. In diesem Moment zerren kräftige Arme sie zurück. Es sind zwei Typen, das merkt sie. Sie tragen schwarze Skimützen, sodass Christina ihre Gesichter nicht erkennen kann. Sie wird durch den Schnee gezerrt, sie sträubt sich, sie versucht zu treten, zu schreien, doch plötzlich hat sie einen Knebel im Mund. Sie hört eine Schiebetür, sie wird hochgezerrt und fällt auf den harten Boden eines Lieferwagens. Es ist warm, die Heizung läuft. Werden die Männer sie umbringen und ihre Leiche irgendwo wegwerfen? Nein, daran will sie nicht denken, noch ist sie am Leben, sie tritt wieder, versucht sich loszureißen, doch da werden ihr hinter dem Rücken die Hände mit Kabelbinder zusammengedrückt. Ihr Gehirn sucht nach Gründen, nach Zusammenhängen, während einer sie auf den Bauch dreht und ihre Knie gewaltsam spreizt, während der andere ihren Oberkörper fest auf den Boden drückt. Das ist es, was sie wollen?, fragt eine Stimme in ihr. Oder ist das nur das Vorspiel vor dem Tod? Sie versucht, jede Anspannung loszulassen, sich nicht vorzustellen, was sie jetzt mit ihr tun werden … Sie hofft, dass die beiden nicht auch noch ein Messer nehmen, verdrängt all die schrecklichen Bilder von vergewaltigten und dann getöteten Frauen – sie zieht sich zurück bis auf den inneren Kern ihres Selbst, an den sie nicht herankommen, egal, was sie tun. Wenn sie sterben muss, dann will sie an sich denken, an Jay und an das Leben mit ihm und an die Sonne und …
Heißer Atem streift ihr Ohr. »Hör zu, du Schlampe, beim nächsten Mal bist du dran! Halt dich gefälligst an die Anweisungen. Halt dich raus!«
»Wo soll ich mich raushalten?«, will sie sagen, doch der Knebel verhindert es.
Der Typ reißt ihr den Kopf in den Nacken. »Bleib zu Hause und kümmere dich um deinen Balg!«
Er lässt ihren Kopf los, und sie knallt mit dem Gesicht auf den harten Boden. Dann spürt sie, wie sie an den Füßen nach hinten gezerrt wird. Ihr Körper schleift über die Metallkante der Hecktür und fällt hart auf die gefrorene Erde.
Sie versucht, etwas zu erkennen, irgendetwas, damit sie die Schweine identifizieren kann, aber es ist dunkel, und sie haben die Autoscheinwerfer ausgeschaltet. Sie hört die Hecktür hinter sich zufallen und einen Motor aufheulen, Reifen drehen durch, und dann fährt das Auto weg – ein dunkler Kastenwagen, mehr kann sie nicht erkennen.
Die Handgelenke sind so fest zusammengebunden, dass sie sich unmöglich befreien kann. Sie wuchtet sich auf den Rücken. Wenn sie jetzt einen scharfen Gegenstand finden würde, könnte sie die Plastikbänder vielleicht aufschneiden. Aber da ist nur Schnee, kalt und nass.
Tränen laufen ihr übers Gesicht, nicht aus Schmerz, sondern aus Wut darüber, dass sie sich ohnmächtig fühlt. Sie stemmt die Fersen in den Schnee, die Schuhe hat sie schon längst verloren, und drückt sich vorwärts. Irgendwo muss doch ein Stein sein, eine scharfe Kante, irgendwo auf dieser verdammten Straße! Sie wird nicht aufgeben, sie wird weitermachen, bis sie frei ist, oder … erfroren. Sie schiebt sich weiter, nur nicht still liegen bleiben, sie versucht, ihre Zehen zu
Weitere Kostenlose Bücher