Der Skandal (German Edition)
wird ihr klar, was nicht stimmt. Warum ist ihr das nicht gleich aufgefallen? Die Muscheln liegen wieder da. Aber der rot-schwarze Stein fehlt. Er liegt bei der Spurensicherung. Er hat unter dem Fenster gelegen – und zwar innen …
Es war kein gewöhnlicher Stein von draußen aus dem Garten. Es war der Stein von den Rocky Mountains, den Jay letztes Jahr aus ihrem Urlaub in Colorado mitgebracht hat. Und dieser Stein hat seitdem neben den Muscheln auf der Fensterbank gelegen. Innen, nicht außen.
Der Täter kann also unmöglich mit dem Stein von draußen das Fenster eingeworfen haben. Er muss zur Tür hereingekommen sein. Und als der Pizzabote geklingelt hat, konnte er nicht mehr durch die Tür fliehen. Also hat er das hintere Fenster geöffnet, hat den Stein genommen, ist hinausgeklettert – und hat den Stein ins Fenster geworfen, damit es aussieht, als wäre er durchs Fenster eingestiegen.
Am Schloss der Eingangstür gibt es aber keine Spuren, die auf einen Einbruch hinweisen. Das kann nur heißen: Tim hat seinem Mörder geöffnet – oder der Mörder hatte einen Schlüssel.
Dieser Rizal Al-Khalib hat Brewer angeblich gestanden, er hätte einen Stein durchs Fenster geworfen und wäre vom Garten aus ins Haus eingedrungen. Wer hat ihm dieses Geständnis aufgezwungen?
Auf einmal hat sie das Gefühl, sie hält einen Faden in der Hand, zum ersten Mal in diesem gottverdammten Fall.
Halb sechs Uhr morgens. Die Razzien sind längst vorbei, ein paar Leute sind eingesperrt, und Brewer bleiben noch zwei Stunden Schlaf, dann muss er die Verdächtigen dem Staatsanwalt vorführen. Sie nimmt ihr Handy. Sie kann es kaum erwarten, ihn aus dem Schlaf zu reißen. Seit ein paar Minuten hat sie tatsächlich vergessen, was letzte Nacht passiert ist.
Irgendwann am frühen Morgen wacht Harpole auf. Er hat ihr nichts erzählt. Aber er hat noch eine Scheibe Hackbraten mit Ei gegessen. Jetzt hat er Durst. Er steht auf und zieht sich an. Katie atmet ruhig. Die Schneewolken haben sich verzogen, der Mond leuchtet herein. Ihr Gesicht strahlt ganz weiß. Ein Gefühl von tiefer Zuneigung erfüllt ihn. Und von Dankbarkeit.
DIE STIMME hat schon lange nicht mehr zu ihm gesprochen. Er fragt sich, ob das ein gutes Zeichen ist oder ein schlechtes. Er geht leise in die Küche und öffnet den Kühlschrank. Kaltes Licht fällt auf die prall gefüllten Fächer. Katie kauft mehr ein, seit er öfter zu ihr kommt, hat sie gesagt. 4:02 zeigt der Radiowecker. Er schaltet das Radio an und dreht die Lautstärke herunter.
»Kann Gott mir jemals vergeben?, fragen wir uns«, sagt die bekannte Stimme so leise, dass Harpole angestrengt zuhören muss. Er gießt sich ein Glas Wasser ein.
»Ja, natürlich! Nichts ist zu groß, und kein Mensch ist zu schlecht, als dass Gott nicht vergeben kann. Die Schuld, etwas falsch gemacht zu haben – ob es sich um das ganze Leben handelt oder um etwas, das du letzte Woche getan hast –, belastet dich wie eine Eisenkugel am Bein, mit der du durchs Leben gehen musst.«
Harpole setzt sich. Genau, denkt er, genauso fühle ich mich.
»Die Schuld nagt an dir«, spricht die Stimme weiter, »sie zerstört dein Leben, sie blockiert alles, was du tust. Das Leben sieht grau aus und ist ohne Hoffnung. Vergebung ist der Schlüssel, und Gott bietet sie dir an, weil er dich liebt.«
Ohne Katie ist sein Leben ganz grau. Und er hat Gott schon oft um Vergebung gebeten, aber er weiß, dass Ikes Frau und seine beiden Kinder ihm niemals vergeben werden.
»Du fragst dich vielleicht, ob du die Vergebung annehmen darfst«, sagt die Stimme im Radio. »Immer wieder befallen dich Zweifel, ob du nicht doch bestraft wirst für deine Taten. Aber Gott lässt dich niemals fallen. Denn er liebt dich.«
Unter seinen nackten Füßen beginnt der Fußboden zu zittern. Es ist ein leichtes Vibrieren, als wäre irgendwo eine Maschine angesprungen. Dann wird es zu einem Schwanken, als stünde er in einem Boot. Die Deckenlampe schwingt leicht hin und her.
»Gott sendet uns immer wieder Zeichen. Es ist an uns, sie zu lesen. Er spricht zu uns.«
Plötzlich ist alles vorbei. Im Radio spielt Musik, und sein Glas steht immer noch auf dem Tisch.
Er geht zurück ins Schlafzimmer und beugt sich zu Katie hinunter. Sie liegt noch genauso da wie vorhin. Sie hat bestimmt nichts gemerkt.
Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, legt er sich zu ihr, taucht seine Nase in ihr Haar und atmet ihren Geruch ein.
Als sie später zusammen aufstehen, fragt er sie, ob sie etwas
Weitere Kostenlose Bücher