Der Skandal (German Edition)

mit dir.«
    Wie er sie ansieht mit seinen grünen Augen … Und seine Lippen sind so nah … Sie ist verwirrt. Er ist dein Partner, okay!
    »Ich … ich glaube, ich muss jetzt allein sein …«
    Mit seinem Oberarm streift er ihre Schulter.
    »Bist du sicher? Ich kann auch …«
    »Ist schon in Ordnung, Aaron«, versichert sie ihm mit einem Lächeln, das ihr beinahe wehtut.
    Er steht auf. »Ruf mich an, okay, egal, wie spät es ist.«
    Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss, und sofort ist sie wieder da, die Angst …
    Sie sitzt wieder in ihrem Auto, der Reifen ist platt. Sie steigt aus.
    Und dann passiert alles noch einmal. Nur dass sie diesmal nicht nur Opfer, sondern zugleich Zuschauerin ist: der Strahl der Taschenlampe in ihren Augen, wie die Typen sie über den Schnee ins den Lieferwagen schleifen, der Geruch nach Gummi und Öl, die Tritte … Als sie hochschreckt, treffen die Schmerzen sie mit voller Wucht. Im Rücken, an den Händen, im Gesicht, auf der Brust … Ihr ganzer Körper ist ein einziger roher Klumpen Schmerz.
    Sie muss raus aus dem Bett, sonst wird alles noch schlimmer.
    Früher war ihre Wohnung ein warmes Zuhause, in das sie jeden Abend gern zurückgekommen ist. Sie hat es genossen, an freien Wochenenden mit Jay im Bett zu kuscheln, zu frühstücken und ihm etwas vorzulesen. Sie hat gern mit einem Glas Wein auf der Couch gesessen, Musik gehört, die Zeitung gelesen, im Winter in eine warme, weiche Decke gehüllt. Jetzt ist die Wohnung nur noch ein Albtraum.
    Ihrer Mutter hat sie noch gar nicht gesagt, was passiert ist. Sie hat sie nur angerufen und gefragt, wie es Jay geht. Und sie hat gesagt, dass sie nicht kommen kann.
    Übermorgen wird Tim beerdigt – sie will nicht daran denken. Sein Tod wird endgültig, und das Leben geht einfach weiter. Sie wird neben ihren Eltern und neben Rita am Grab stehen und die vielen Beileidsbekundungen entgegennehmen müssen. Und dabei wird sie nur daran denken, dass sie in der Bar gesessen hat, als es passierte, und dass sie nicht zu Hause war, wo sie alles hätte verhindern können.
    Sie bleibt im Türrahmen zum Wohnzimmer stehen und blickt zur Couch. Sie sieht Tim dort in der Dunkelheit sitzen. Sie erkennt ihn genau. Seine lockigen Haare, seine typische Haltung: den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, die Beine übereinandergeschlagen.
    Tim sieht fern. Plötzlich klirrt eine Scheibe. Er denkt, es war vielleicht der Wind, der ein Fenster zugeschlagen hat, oder eine Katze, die die Wärme sucht. Er steht auf und sieht nach. Der Eindringling feuert eine Kugel auf ihn ab, sie trifft ihn in die Brust.
    Tim sackt tot zu Boden. Jay ist zu der Zeit nicht im Wohnzimmer, er läuft aber dorthin, da er die Schüsse gehört hat. Der Täter zielt auf ihn, der Pizzabote läutet, und er flieht durch das Fenster, durch das er gekommen ist. Ja, so muss es gewesen sein.
    Christina will sich in der Küche einen Tee machen. Während sie darauf wartet, dass das Wasser heiß wird, schluckt sie zwei Schmerztabletten. Ihr Kopf dröhnt, und ihre Stirn fühlt sich fiebrig an. Ihr Körper will, dass sie sich wieder ins Bett legt. Sie sucht im Schrank nach Teebeuteln, findet aber nur Pfefferminztee. Nein, diesen Geruch erträgt sie jetzt nicht. Dann also keinen Tee.
    Tim hat ihr gleich nach seinem Einzug eine Keurig Espressomaschine gekauft und zwei Sorten Kaffeepads. Wenn du es mal nicht zu Starbucks schaffst, hat er grinsend gesagt. Sie nimmt den Rainforest Espresso Extra Bold , und einen Augenblick lang steht sie unter einem in den Himmel ragenden Baum, durch dessen Wipfel warme Sonnenstrahlen zu ihr dringen, während es um sie herum zwitschert und zirpt und raschelt und nach süßen Blüten duftet. Tim hat am liebsten French Roast getrunken, stellt sie fest, denn die Packung ist fast leer.
    Jetzt ist er tot.
    Der Kaffee belebt sie. Sie geht mit der dampfenden Tasse zum Fenster am Ende des Flurs und bleibt stehen. Hier soll er reingekommen sein. Ihr Vater hat dafür gesorgt, dass die Scheibe erneuert worden ist. Unter der kaputten Scheibe hat ein Stein gelegen.
    Auf der Fensterbank sind die Muscheln wieder aufgereiht. Sie stellt die Tasse ab, nimmt sie in die Hand und schließt die Augen. Sie ist mit Jay am Strand. Er ist vier, und sie hält seine kleine Hand. In der Bucht, wo ihr Apartment ist, liegen morgens an einer bestimmten Stelle immer neue Muscheln, die die Flut angeschwemmt hat. Jay bringt ihr eine Muschel nach der anderen, und sie steckt sie in ihre Strandtasche …
    Und plötzlich