Der Sklave von Midkemia
der verschreckten Tiere hinweg fragte er: »Wie groß ist die Chance, von hier aus querfeldein zu unserer Lady zu laufen?«
Wiallo zuckte in typisch tsuranischer Gelassenheit mit den Schultern. »Ich kenne dieses Gebiet so gut wie jeder andere, Kommandeur. Doch im Dunkeln, umzingelt von den Minwanabi? Selbst ein Schatten wäre auf die Gunst der Götter angewiesen, wollte er ungesehen hindurchschlüpfen.«
Das kreischende Gebrüll der Needras machte einen Augenblick jeden Gedanken zunichte. Keyoke blickte zur Seite und deutete auf einen kleinen Überhang. »Dann klettert hier hinauf und versteckt Euch. Wenn die Minwanabi-Hunde vorbeimarschiert sind, wartet einen geeigneten Augenblick ab und lauft zurück zur großen Straße. Versucht so schnell wie möglich zum Herrenhaus zu gelangen. Kurz bevor die Minwanabi durchbrechen, werde ich die Seide verbrennen, die wir dabeihaben. Mit etwas Glück werden unsere Feinde annehmen, daß wir alles vernichtet haben, um ihnen keinerlei Beute zu hinterlassen. Am wichtigsten jedoch ist, daß unsere Herrin erfährt, daß wir verraten wurden. Möglicherweise haben wir einen Spion in unserem Haus. Und jetzt geht.«
Wiallo fühlte sich geehrt, daß er für diese wichtige Aufgabe ausgewählt worden war, und nach einem raschen Nicken kletterte er nach oben. Als er auf dem Felsblock angekommen war, nahm er seinen Helm ab und kauerte sich so eng wie möglich zusammen, um nicht von den Feinden gesehen zu werden, die schon bald unten vorbeimarschieren mußten. Wiallo blickte hinunter und rief: »Mögen die Götter Euch schützen, Kommandeur, und schickt heute nacht viele Minwanabi-Hunde in die Halle Turakamus!«
Keyoke nickte kurz. »Möge Chochocan Eure Schritte leiten.«
Der nächste Mann in der Reihe nahm Wiallos liegengelassenes Bündel Seide auf und ging ungerührt weiter. Schweigend, grimmig und zu beschäftigt, um seine Schmerzen zu bemerken, beugte Keyoke die Knie und kroch über den unebenen, kiesbedeckten Boden. Der scharfe Geruch des Needra-Kots brannte in seiner Nase, als er sich unter dem Felsen hindurchzwängte und nach vorn eilte, um seine Kompanie anzuführen.
Die Nacht schritt voran, und der Mond tauchte hinter einer dunklen Felswand auf und verschwand wieder. Insekten waren in einem Wald zu hören, in dem die Nachtvögel schwiegen, und der Wind wisperte unheimlich in den Blättern. Die Männer bewegten sich wie Gespenster durch die nebelverhangenen Spalte, ihre Füße rutschten bei der Suche nach Halt auf nassen Wurzeln und moosbedecktem Fels. Das Quietschen der polierten Rüstungen und Waffen und das scharfe Zischen der Fellpeitschen, mit denen die Wagenlenker die Needras weitertrieben, hallten durch die Schlucht. Keiner der Soldaten und Diener, die durch die Nacht eilten, erreichte die kleine Schlucht ohne blutende Arme und Knie, und die Needras bebten, das Fell schweißbedeckt und übel stinkend.
Keyoke erteilte knappe Befehle, als er im Licht der Sterne mit erfahrenen Augen die Schlucht absuchte, in der sie sich dem Feind entgegenstellen würden. Die Männer nahmen die Seide von den Schultern und begannen, aus Felsblöcken, Baumstämmen und hastig aus einem Bachbett gegrabenen Erdklumpen zwischen den glatten Felswänden am Eingang der Schlucht eine Barrikade zu errichten. Diener schlachteten die Needras und türmten die Kadaver zu Brustwehren auf, um Deckung vor den Bogenschützen zu haben, die sicherlich den oberen Rand der Schlucht besetzen würden. Die Nachtluft füllte sich mit dem Geruch frischen Blutes und stinkender Exkremente.
Keyoke befahl den Dienern, einen der Kadaver zu zerteilen und ein kleines Feuer zu entfachen, um das Fleisch zu kochen und zu trocknen. Ohne Nahrung würden die Soldaten nicht kämpfen können. Schließlich stapelten die Männer die kostbare Seide wie eine Palisade in einer Mulde im hinteren Bereich der Schlucht, kurz bevor die Felswand steil anstieg. Die wunderschön schillernden Stoffballen würden als Nische dienen, in die sie sich zurückziehen konnten, wenn der letzte Kampf es erforderte.
Dann kniete sich Keyoke, ganz heiser vom vielen Reden, neben einem Wassertümpel nieder. Der Teich wurde von einem kleinen Wasserfall gespeist, der aus einer nicht zu besteigenden Spalte am Rand der Schlucht plätscherte. Keyoke band den Helm los, benetzte sein faltiges Gesicht und schnallte ihn mit leicht zitternden Händen wieder fest. Er hatte keine Angst; er hatte in zu vielen Schlachten gekämpft, zu viele Angriffe geführt, als daß er
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