Der Sklave von Midkemia
jungen Lords der Minwanabi klang überraschend kraftvoll in der stillen Halle.
»Ich heiße euch willkommen«, erklärte Desio, »meine Familie, meine Verbündeten und Freunde. Diejenigen unter euch, die meinem Vater dienten, sind zweifach willkommen: wegen eurer Loyalität ihm gegenüber in der Vergangenheit – und mir gegenüber in der Zukunft.«
Incomo atmete erleichtert auf; seine Sorge war erst einmal beschwichtigt. Sein junger Schützling fuhr mit schwülstigen Worten fort und dankte den anwesenden Priestern; dann, als sein Vortrag noch leidenschaftlicher wurde, nahm er auch die kräftigen Hände zur Hilfe. Überzeugt von seiner eigenen Wichtigkeit, lenkte Desio die Aufmerksamkeit auf einige der bedeutenderen Gäste. Incomo bemühte sich um einen interessierten Gesichtsausdruck, doch seine Gedanken wanderten zunehmend ab: Was würde die Lady der Acoma als nächstes unternehmen?
Wie war es dem Mädchen nur gelungen, Jingus Pläne für ihren Tod so drastisch umzukehren? Sooft Incomo sich die Ereignisse jenes verfluchten Tages auch in Erinnerung rief, er konnte nicht erkennen, was die Dinge verändert und zu einer solch tragischen Entwicklung geführt hatte.
Nur eines wußte er: Die Minwanabi hatten sich zu sehr auf eine bezahlte Kurtisane als Agentin verlassen. Sie hatte in dem Ruf gestanden, durch und durch professionell zu sein, doch letztendlich hatte sie aus persönlichen Gründen versagt. Die Folgen hatten die schöne Frau das Leben gekostet. Incomo schwor insgeheim, sich niemals wieder auf eine Person zu verlassen, die nicht den Minwanabi die Treue geschworen hatte. Und welche Rolle hatte dabei Truppenführer Shimizu gespielt, der durch den Eid an seinen Dienst gebunden gewesen war? Den Angriff auf Maras Leibwächter hatte er wie geplant durchgeführt, doch der kleine »Unfall« in der nächsten Nacht, der die Acoma für immer hätte vernichten können, hatte sich zu einem Debakel entwickelt.
Desio kündigte einen anderen ehrenwerten Gast an, der gekommen war, um seine Amtseinführung zu sehen. Incomo blickte in die Richtung, wo der Lord saß, und versuchte, nicht gelangweilt zu wirken. Seine Gedanken kehrten wieder zu jenem schrecklichen Tag zurück.
Incomo unterdrückte ein Zittern, als er sich an den Schrecken auf Lord Jingus Gesicht erinnerte, nachdem die Magier des Kriegsherrn mit Hilfe ihrer Zauberkunst den unglückseligen Verrat der Kurtisane und des Truppenführers gegenüber Mara offenbart hatten. Vor den Augen der Gäste hatte Jingu von einer Sekunde zur nächsten seine Ehre verloren und war zu der einzigen Form der Wiedergutmachung gezwungen gewesen, die sein Haus hatte retten können. In der gesamten Geschichte der Lords der Minwanabi war es niemals notwendig gewesen, die Familienehre durch Selbstmord zu erhalten. Immer noch erwachte Incomo schweißgebadet mitten in der Nacht, wenn er von dem Moment träumte, da Jingu seinen ganzen Mut zusammengenommen und sich in das Familienschwert gestürzt hatte.
Incomo erinnerte sich kaum an das, was danach geschehen war: der Marsch zurück zum Herrenhaus, sein Lord in seiner polierten, glänzenden Rüstung auf der Beerdigungsbahre, die Hände über dem Schwert gekreuzt – all das waren nur verschwommene Bilder. Statt dessen quälte den Ersten Berater der Anblick Jingus im Augenblick des Todes: der auf dem Boden ausgestreckte Lord, das Blut und die herausquellenden Innereien, die leeren Augen, die wie sterbende Fische auf den Docks ihren Glanz verloren hatten. Der Priester Turakamus hatte Jingus Hände schnell mit der rituellen Kordel gebunden und sein Gesicht mit einem scharlachroten Tuch bedeckt. Doch die Erinnerung hatte sich unauslöschlich eingeprägt. Die Herrschaft eines großen und mächtigen Herrn war erschreckend plötzlich zu Ende gegangen.
Eine Bewegung holte Incomo in die Gegenwart zurück. Grüßend nickte er einem anderen Herrscher zu, der gekommen war, um Desio zu huldigen. Dann atmete der Erste Berater der Minwanabi tief ein und riß sich zusammen. Er hatte mit unerschütterlich scheinender Ruhe das Haus der Minwanabi durch die Zeit geführt, in der Desio sich seinen Ausschweifungen gewidmet hatte. Doch hinter seiner Maske aus korrektem, keine Gefühle zeigendem Verhalten kämpfte Incomo gegen fürchterliche Schrecken. Zum ersten Mal in der langen Zeit, die er das Spiel des Rates spielte, lernte er die lähmende Wirkung der Furcht von der anderen Seite kennen.
Sein einziger Schutz gegen diese Bedrohung war eine Wut, die sich an
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