Der Sklave von Midkemia
Botschaft verantwortlich zu machen. Die Lektion war eindeutig: Die Dinge sind nicht so, wie sie zu sein scheinen.
Aus irgendeinem besonderen Grund wünschte sie, mit diesem Mann eine vertrauliche Variante des Großen Spieles zu spielen. Die Idee dazu war in dem Moment aufgetaucht, als er sie gezwungen hatte, sich seinen Regeln zu beugen. Also gut, dachte sie, während sie ihn ansah, du hast die Regeln gemacht, aber du wirst dennoch verlieren. Sie wußte nicht, warum es so wichtig war, diesen Sklaven zu bezwingen, doch die Intensität ihrer Absicht entsprach der ihres Wunsches, die Minwanabi zu vernichten. Kevin mußte in jeder Hinsicht ihr Untertan sein, mußte ihr den gleichen bedingungslosen Gehorsam entgegenbringen wie jedes andere Mitglied ihres Haushaltes auch.
Kevin war jetzt schon nahezu zehn Minuten da und wartete, während sie einige Berichte zu Ende las. Dann begann sie die Unterhaltung: »Möchtest du etwas trinken? Es könnte heute länger dauern.« Er bedachte ihre Worte lange genug, um zu erkennen, daß sie ihm keine Versöhnung anbot, dann schüttelte er den Kopf. Es blieb einige Zeit still, bis sie schließlich fortfuhr: »In deiner Welt ist es möglich, daß ein Sklave die Freiheit wiedererlangt?«
Kevin verzog leicht spöttisch den Mund. Er zupfte wieder an den Fransen, schnippte sie voller aufgestautem Mißmut hin und her. »Nicht im Königreich, denn dort werden nur Verbrecher mit lebenslänglichen Strafen als Sklaven verkauft. Aber in Kesh und Queg können Sklaven, wenn sie ihre Herren zufriedenstellen, als Gegenleistung die Freiheit erlangen. Oder sie fliehen und schaffen es bis über die Grenze. So etwas geschieht zuweilen.«
Mara betrachtete seine Hände. Zupf, zupf, ein Finger nach dem anderen zupfte an den Fransen. Sie konnte seine Gefühle lesen wie ein Buch. Seine Offenheit brachte sie ein wenig durcheinander, und sie mußte sich zwingen, ihre Gedanken weiterzuverfolgen, ihre unglaubliche Mutmaßung noch einen Schritt voranzutreiben.
»Und wenn der Flüchtling erst einmal über der Grenze ist, kann er dann zu Wohlstand kommen und ein ehrenvolles Leben unter anderen Menschen führen?«
»Ja.« Kevin klopfte mit den Handflächen gegen die Knie, dann lehnte er sich zurück und stützte sich auf einen Ellbogen. Er wollte noch mehr sagen, doch Mara schnitt ihm das Wort ab:
»Dann gehst du also davon aus, daß du – falls du einen Weg zurück durch den Spalt in deine eigene Welt findest – deine Position, deine Ehre und deinen Titel wiedererhältst?«
»Lady«, sagte Kevin mit herablassendem Lächeln, »ich würde nicht nur meine frühere Position wiedererhalten, ich würde auch eine besondere Auszeichnung bekommen, weil ich meinem Feind entkommen konnte und ihm erneut im Feld gegenübertreten kann – und weil ich anderen Kriegern die Hoffnung geben würde, nach einer möglichen Gefangennahme ebenfalls die Freiheit wiederzuerlangen. Bei meinem Volk ist es die Pflicht eines gefangenen … Soldaten zu fliehen.«
Mara hob die Augenbrauen. Erneut war sie gezwungen, ihre Vorstellungen von Ehre und Loyalität zu überdenken, und auch die Frage nach dem größeren Nutzen. Die Worte des Barbaren machten Sinn, wenn auch in einer merkwürdig beunruhigenden Weise. Diese Leute waren nicht unnachgiebig oder dumm, sondern sie handelten nach den Regeln einer fremden Kultur. Dickköpfig wehrte sie sich noch gegen das neue Konzept, rang innerlich mit ihm. Wenn, wie in Kevins Gesellschaft, Trotz als etwas Heldenhaftes angesehen wurde, machte sein Verhalten auf eine absurde Weise Sinn. Mit gutem Beispiel voranzugehen war den Tsurani ein vertrautes Ideal. Doch Erniedrigung zu erdulden … Demütigung … damit man eines Tages zurückkehren und den Kampf gegen den Feind wieder aufnehmen konnte … Ihr Kopf brummte von Ideen, die sie bisher für grundlegend falsch gehalten hatte.
Sie nahm einen Schluck von dem kühlen Fruchtsaft. Sie war auf beinahe gefährliche Art fasziniert, wie ein Kind, dem in einem Hinterzimmer eines Tempels verbotene Riten gezeigt werden. Mara setzte sich mit Dingen auseinander, die so gefährlich waren wie scharfgeschliffene Schwerter: Auf Midkemia taten ehrenhafte Männer Frauen keine Gewalt an, und die Ehre starb nicht automatisch mit der Gefangenschaft. Sklaven mußten nicht immer Sklaven bleiben. Welche Anordnungen hatten die Götter dann für die Menschen, die ihre Seelen noch während ihres Lebens verloren hatten? Was nahm einem Menschen noch mehr die Ehre als die
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