Der Sklave von Midkemia
sein und gestand: »Niemals in meinem Leben habe ich so viele Leute leiden sehen.«
»Aber ihr müßt in eurem Königreich doch auch arme Leute haben«, erwiderte Mara unverändert. »Wie sonst erkennen die Menschen das Mißfallen der Götter an ihrem Verhalten, wenn nicht daran, daß sie im nächsten Leben in einem niederen Rang zurückkehren?«
Kevin erstarrte. »Was haben die Götter mit verhungernden Kindern, Krankheiten und Grausamkeiten zu tun? Und was ist mit der Rechtschaffenheit von guter Arbeit und Nächstenliebe? Gibt es keine Almosen in diesem Land, oder sind alle tsuranischen Edlen so grausam?«
Mara setzte sich jetzt aufrecht hin; die Kissen lagen verstreut auf dem gewachsten Boden herum. »Du bist ein seltsamer Mann«, bemerkte sie mit einer Stimme, in der leichte Panik mitschwang. So oft sie auch die Traditionen ein wenig gebeugt hatte, sie hatte niemals die Allmacht der Götter in Frage gestellt. Eine solche Ketzerei bedeutete, völlige Zerstörung heraufzubeschwören. Mara wußte, daß andere Edle den Glauben ihrer Ahnen nicht so unerschütterlich befolgten, doch sie selbst war fromm; hätte das Schicksal sie nicht zur Herrscherin bestimmt, hätte sie ihr Leben in den besinnlichen Dienst der Göttin Lashima gestellt. Es war eine absolute, unverrückbare Wahrheit, daß die Götter die Ordnung im Kaiserreich bestimmten. Diese Tatsache anzuzweifeln bedeutete, das Konzept der Ehre selbst zu hinterfragen und damit die Grundfesten der tsuranischen Gesellschaft zu untergraben. Der göttliche Auftrag war es, der dem Kaiserreich seine Ordnung verlieh und allem einen Sinn gab – dem Wissen, daß man für einen ehrenvollen Dienst später einmal belohnt werden würde, dem Recht, mit dem die Edlen über andere herrschten, oder den Zwängen im Spiel des Rates, durch das ein allgemeines Gemetzel verhindert wurde.
Mit einer einzigen unbedachten Bemerkung hatte der Barbar die tragenden Säulen tsuranischer Überzeugungen – und damit die gesamte Weltordnung – in Frage gestellt.
Mara versuchte sich zusammenzureißen, doch innerlich war sie zutiefst aufgewühlt von der alarmierenden Tragweite dieser neuen Ideen. Das nächtliche Vergnügen, das Kevin ihr bereitete, war niemals den Preis seiner neuen, gefährlichen Gedanken wert. Sie durfte ihm nicht erlauben, solch blasphemischen Unsinn von sich zu geben, besonders nicht in der Nähe Ayakis. Der Junge liebte Kevin abgöttisch, doch die Entschlossenheit des zukünftigen Lords der Acoma, die notwendig sein würde, um das Haus zu voller Größe zu führen, durfte nicht von Unsicherheiten erschüttert werden. Es war eine Sache, anderen Familien die Macht streitig zu machen, denn auf solche Anstrengungen blickten die Götter mit Wohlwollen. Jedoch in eitler Anwandlung zu glauben, daß deren Lob sich auf Verstand, Fähigkeiten und etwas Glück bezog, war … war moralisch zersetzend und undenkbar.
Die Lady der Acoma fühlte sich in die Enge getrieben und sah nur einen Ausweg.
»Geh«, sagte sie scharf. Sie stand abrupt auf und klatschte brüsk in die Hände. Obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen war und die Läden noch für die Nacht geschlossen waren, eilten sofort zwei Zofen und ein Diener herbei.
»Kleidet mich an«, befahl die Lady Eine der Zofen ging, um ein Gewand auszuwählen, während die andere Kamm und Bürste in die Hände nahm und sich an den Haaren ihrer Herrin zu schaffen machte. Der Diener rückte die Kissen wieder zurecht und öffnete die Läden. Es schien ihn nicht zu verwundern, daß Kevin im Weg war. Der verhutzelte alte Mann hatte ein tief verwurzeltes Pflichtgefühl und räumte das Gemach auf, als wäre er taub.
Mara schlüpfte in die rosafarbene Seidenrobe, die die Zofe bereithielt. Sie wandte sich um und blickte in Kevins verblüfftes Gesicht. Er stand nackt da, Hemd und Hose hingen über seinem Arm. Die Lady sah ihn ernst an, ihre dunklen Augen waren unergründlich und hart. »Jican erklärte mir, daß die Arbeiten an den Needra-Weiden nur langsam vorangehen. Dies ist überwiegend deinen Landsleuten zuzuschreiben, die sich ständig krank stellen und sich über die ihnen zugeteilte Arbeit beklagen.« Die Zofe hob die Haare von Maras Nacken und begann mit großem Geschick, sie in einem kunstvollen Knoten auf dem Kopf aufzutürmen. Mara fuhr mit gelassener Stimme fort, obwohl die Zofe ihren Kopf mal in die eine, mal in die andere Richtung zerrte, während sie jede Locke einzeln in den Knoten einarbeitete. »Ich möchte, daß du dich darum
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