Der Sklave von Midkemia
deutlich an seine Mutter, und die Hände waren so schön wie die einer Frau. Er war ein gutaussehender Mann, doch seine Lippen und seine Augen verrieten einen ausgeprägten Hang zur Grausamkeit.
Jiro verbeugte sich mit einer Perfektion, die an blanken Hohn grenzte.
»Willkommen im Hause der Acoma«, grüßte Mara, ohne die Worte großartig zu betonen. Ihre eigene Verbeugung beschränkte sie auf ein Mindestmaß – ein klarer Hinweis auf die Tatsache, daß der Sohn der Anasati in ihrem Innenhof eine bewaffnete Gefolgschaft versammelt hatte, die einem gesellschaftlichen Besuch ganz und gar unangemessen war. Entsprechend ihrem Recht als Ranghöhere wartete sie darauf, daß ihr Gast mit der formellen Begrüßung begann. Jiro schwieg jedoch eine Zeitlang in der Erwartung, sie würde einen Fehler machen und sich nach seiner Gesundheit erkundigen. Schließlich begann er mit den Worten: »Geht es Euch gut, Lady?«
Mara nickte kurz. »Es geht mir gut, danke. Und geht es Euch gut, Jiro?«
Der junge Mann lächelte, doch seine Augen waren so kalt wie die einer Schlange. »Es geht mir gut und auch dem Vater, der mich sandte.« Seine Hand hing lässig über dem Dolch in der Scheide an seinem Gürtel. »Ich sehe, daß es Euch ebenfalls gutgeht, Mara, und wenn Euch das Muttersein überhaupt verändert hat, so seid Ihr nur noch hübscher geworden. Es ist traurig, daß eine so schöne Frau wie Ihr so jung zur Witwe wurde. Welch eine Verschwendung.«
Wenn auch sein Ton von tadelloser Höflichkeit zeugte, kamen seine Worte doch einer Beleidigung sehr nahe. Dies war kein Versöhnungsbesuch. Mara wußte, daß er durch sein Verhalten den Anschein erweckte, als würde ein hoher Lord einen Vasallen besuchen, und so hob sie einfach nur die Robe etwas an und schritt ins Haus – ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr wie ein Diener zu folgen. Sie mußte achtgeben, daß er seine kleinen gesellschaftlichen Spielchen nicht zu arg ausdehnte, denn sonst brachte er sie womöglich noch dazu, ihn länger als nur einen Nachmittag ertragen zu müssen. Sicherlich erwartete Tecuma, daß der Junge mit möglichst vielen Informationen zurückkehrte, doch Mara hatte keinerlei Bedürfnis, Jiro einen Anlaß zu geben, bei ihr zu übernachten.
Bedienstete hatten leichte Erfrischungen in der großen Halle aufgetischt. Mara ließ sich auf dem Podest nieder. Sie bedeutete Nacoya, rechts von ihr Platz zu nehmen, und erteilte Jican die langersehnte Erlaubnis, sich zurückzuziehen. Dann winkte sie Jiro zu, es sich auf den Kissen ihr gegenüber bequem zu machen. Mara hatte ihm den Platz eines Gleichberechtigten zugewiesen, eine freiwillige Höflichkeit, die es ihm unmöglich machte, gegen Tasido und seine Unteroffiziere zu protestieren, die hinter ihm standen. Seine eigene Ehrenwache ebenfalls auf dem Podest zu plazieren war jedoch nur gestattet, wenn sich feindliche Parteien zu Verhandlungen trafen. Da dies nicht der Fall war, zumindest nicht offensichtlich, mußte Jiros Leibwächter an der Tür warten. Mara hatte ihren zuverlässigsten Diener für ihren edlen Gast abgestellt, und der versorgte Jiro erst einmal mit einer Wasserschüssel und einem Tuch, damit er sich die Hände säubern konnte, und erkundigte sich sodann höflich, was er trinken wollte. Bevor Jiro sich von den Banalitäten wieder abwenden und sammeln konnte, hatte Mara bereits erneut das Wort ergriffen. »Da ein Mann so viele Soldaten gewöhnlich nicht mitnimmt, wenn er die Witwe seines Bruders besucht, um sie zu trösten, nehme ich an, daß Euer Vater eine Nachricht für mich hat?«
Jiro versteifte sich, erlangte jedoch mit bewundernswerter Beherrschung rasch seine Haltung zurück und schaute Mara an. Sie hatte hart und gezielt zugeschlagen: Sie hatte in einem einzigen Satz nicht nur die Erinnerung an seinen Bruder, der zur Stärkung der Position der Acoma im Großen Spiel hatte sterben müssen, aufgegriffen und an ihn zurückgegeben, sondern ihm auch gleichzeitig unterstellt, daß er die Witwe in einer intimeren Weise »trösten« wollte, als es der Brauch der Tsurani gestattete. Und dann hatte sie ihn zu einer Art Botenjungen seines Vaters heruntergestuft. Die Bedeutung der Aussage war wie ein Schlag ins Gesicht, und der Blick, den der Sohn der Anasati ihr jetzt zuwarf, war eisig und voller grenzenlosem Haß.
Mara verbarg ein Zittern. An Nacoyas weißen Lippen und ihrer Reglosigkeit erkannte sie, daß sie einen Fehler gemacht hatte – sie hatte Jiros Feindseligkeit unterschätzt. Dieser
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