Der Skorpion von Ipet-Isut
sich auf, spannte die Bogensehne, zielte. Doch gerade in diesem Augenblick flog die anvisierte Nilgans an der Sonne vorüber. Ramses blinzelte irritiert und der Pfeil sauste lediglich durch die Schwanzfedern des Vogels. Erschrocken stoben die Gänse auseinander und es dauerte etwas, ehe sie sich wieder formiert hatten.
Der Pharao stieg ein Stück weiter auf den hochgezogenen Vordersteven und legte erneut einen Pfeil ein. Links und rechts von ihm hatten vier Sklaven alle Hände voll zu tun, die dichter werdenden Schilfstengel abzuschlagen, um dem Boot die Weiterfahrt zu ermöglichen. Ramses hob den Bogen und schoss. Diesmal traf der Pfeil die Brust einer Gans, genau an der Stelle, an der ein rostroter Fleck ihr Gefieder zierte. Der Vogel trudelte vor dem Bug ins Wasser und der Jäger wandte sich befriedigt lächelnd zu Kahotep und seinen anderen Begleitern um.
Einer der Sklaven fischte die Beute aus dem Schilfrohr und legte sie vor dem Pharao nieder. Der bückte sich, entfernte seinen Pfeil aus der Gänsebrust und warf ihn ins Schilfdickicht. Dann befahl er eine Rast und setzte sich neben Kahotep nieder.
„Du genießt die Jagd, wie ich sehe“, sagte der Oberpriester.
„Ja, sie gibt mir Gelegenheit, den finsteren Gesichtern im Palast zu entfliehen! Ich bin sicher, dass mir einige bei Hofe nach dem Leben trachten! Vielleicht ist sogar hier jemand von meinen Feinden an Bord und wartet nur darauf, mich den Krokodilen zum Fraß vorzuwerfen! Zum Beispiel Peles, der Sohn des Obersten Siegelschneiders… Er geht ein und aus in Ipet-Isut und mästet Amenemhat mit seinen Geschenken!“ Ramses griff den Krug mit Gerstenbier, den einer der Sklaven ihm reichte.
Kahotep blickte auf die Libellen, die über der Wasseroberfläche schwirrten und überlegte. Er wusste nicht, ob der Sohn des Obersten Siegelschneiders ein Komplott schmiedete. Ramses’ entsandter Spion hatte bisher keine verwertbaren Beweise für die Machenschaften des Hohenpriesters gefunden. Aber Kahotep war sich sicher, dass Amenemhat nicht tatenlos da saß, wie er es alle scheinbar gern glauben machen wollte. Nein, er hatte ganz gewiss etwas vor, so gewiss wie ein Skorpion nicht plötzlich seinen Giftstachel verlor! Wenn er den Sohn des Obersten Siegelschneiders tatsächlich als Handlanger benutzte…
„Peles“, begann Kahotep. „…ist jung und voller Geltungsdrang. Dem musst du schmeicheln, Erhabener! Das ist die beste Waffe, die nicht einmal Blut vergießt. Sende ihn als deinen Prüfer zu den Türkisminen im Sinai. So ist es ihm nicht länger möglich, im Palast Unruhe zu stiften. Er wird sich natürlich nicht die Gelegenheit entgehen lassen und sich dort an den Einnahmen bereichern. Doch der Schaden wird gering sein im Vergleich zum Vorteil, den dir sein Verschwinden verschafft.“
Ramses nickte zum Zeichen der Zustimmung und tat einen tiefen Zug aus dem Gerstenbierkrug. Warum, klagte er sich im Stillen an, kam er niemals selbst auf diese Ideen?
Eine Zeitlang saßen die beiden Männer schweigend nebeneinander, während das Boot träge auf dem Wasser schaukelte. Vom Ufer klang das Lachen spielender Kinder zu ihnen. Dies erinnerte Kahotep an ein anderes wichtiges Anliegen.
„Mein König, du musst Sorge für einen Erben tragen.“
„Oh, zunächst genügt mir der Harem meines Vaters.“ Seine Gedanken verweilten bei jener aufreizend schönen Tänzerin, die ihm der Wesir gestern vorgestellt hatte. Wie war doch ihr Name gewesen? Itakaiet, ja… Ihren Körper hatte der Schöpfergott bestimmt im Rausch der Liebe geformt… Ob er sie heute Abend wiedersah?
„Den Erfordernissen der beiden Länder genügt der Harem nicht, wenn du mir erlaubst, das zu sagen“, verschaffte sich Kahoteps Stimme wieder Gehör. „Der Fortbestand der Dynastie muss gewahrt sein. Erinnerst du dich nicht an die Geschichte von Pharao Chepre? Er war unfähig, einen Nachfolger zu zeugen und nach seinem Tod versank das Land im Krieg, bis die göttlichen Zeichen einen Wesir zum Nachfolger bestimmten.“
„Nun, den Wesir möchte ich nicht auf meinem Thron sehen!“ Ramses verschränkte die Arme hinter dem Kopf, lehnte sich zurück und lachte. „Einen Erben brauche ich also, mein hochgeschätzter Berater! Aber wer soll seine Mutter sein? Wenn Amun sich entschließt, einen Thronfolger zu zeugen, muss die Gottesgemahlin von königlichem Geblüt sein, so ist das Gesetz!“
Kahotep war auf diese Frage vorbereitet.
„Der Oberpriester des Ptah von Men-Nefer stammt aus dem Hohen Haus.
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