Der Skorpion von Ipet-Isut
Amenemhat? War ihm irgendetwas zugestoßen? Plötzlich war es nicht nur eine belanglose neugierige Frage, sondern eine Vorstellung, die wie ein kühler Lehmklumpen in ihrem Innern lag. Sie machte sich auf den Weg Richtung Tempeltor.
Draußen, auf dem Prozessionsweg hinunter zum Fluss, hatte sich eine größere Menschenmenge versammelt. Das Volk von ganz Kemet, arm und reich, feierte an diesen drei Tagen die Auferweckung des Usire durch die Zauberkunst seiner Gemahlin Iset und mit ihr die Fruchtbarmachung des Landes. Geschmückte Festboote fuhren nach West-Waset, um dort mit Saatgut gefüllte Abbilder des Gottes symbolisch zu bestatten. Umso inniger feierten die Leute, weil in diesem Jahr die Ernte schlecht gewesen war und, sollte es im nächsten nicht besser werden, Hunger drohte.
Möglicherweise war Amenemhat dort...
Wieso dachte sie dauernd an ihn?!
Durch das große Tor laufend, kam sich vor wie eine Diebin, die man auf frischer Tat ertappte, und ärgerte sich. Was ging es sie an, wo er war? Ob in einem Hurenhaus in der Stadt oder im Palast bei der Königsmutter! Das war nichts, was sie interessieren musste, oh nein! Trotzdem fühlte sie sich unbehaglich verletzt bei diesen Vorstellungen, was sie noch mehr ärgerte.
Als jemand sie anrief, fuhr sie mit zornigem Gesicht herum. Sie hatte das Tempeltor unterdessen hinter sich gelassen, und hier am Rand des Prozessionsweges saß ein Händler – einer von vielen, wie sie jetzt feststellte – und pries seine Ware an. Es waren Skulpturen der Götter Kemets, wie sie jetzt feststellte. Eines Gottes insbesondere, der die Königskronen auf dem Kopf trug. Es gab sie in allen Größen und diverser künstlerischer Ausfertigung. Um die benachbarten Händlerstände herrschte dichtes Gedränge; sie machten ein gutes Geschäft an diesem Festtag.
Debora hatte die Hand nach einem der Figürchen ausgestreckt und der Verkäufer ermunterte sie mit einem Wortschwall.
„Nimm nur, Mädchen, zum Lobpreis des guten Usire! Das feinste und beste Handwerk in ganz Waset! Heute zum Festtag! Zum Bitttag um eine reichliche Flut im nächsten Jahr!“
Sie stellte die Statuette zurück. „Ich kann nicht zahlen“, versuchte sie den allzu aufdringlichen Händler abzuwehren. Der Mann begann in einen klagenden Ton zu verfallen, aber dann plötzlich streckte er ihr die Figur wieder entgegen und grinste. „Du brauchst nichts zu bezahlen, erhabene Herrin! Du bist die Gefährtin des Ersten Gottesdieners! Es ist mir eine Freude, dir ein Geschenk zu machen, Ehrwürdige!“
Dabei verneigte er sich tief, und einen Augenblick später noch einmal in eine Richtung links von Debora. Sie wandte sich um, überrascht, zornig und verwirrt zugleich über das Verhalten des Händlers und erkannte Amenemhat. Er erwiderte den Gruß des Händlers mit einer Segensgeste und schenkte Debora einen Blick, den sie nicht zu deuten wusste. Hastig stellte sie die Usirestatuette auf zu den übrigen Pilgerandenken und rannte zurück durch das Tor ins Innere des Tempels.
Sie halten mich für seine Konkubine, dachte sie immer wieder und hatte den Wunsch, sich irgendwo zu verstecken. Und nichts hatte Amenemhat diesem Dummkopf von Händler daraufhin erwidert! Wohl um sie zu demütigen?! Wahrscheinlich schlug er sich auf die Schenkel vor Lachen! Sie hasste ihn! Dieser Abend würde der letzte sein, den sie hier in Ipet-Isut verbrachte, das schwor sie sich.
Aber sie blieb.
Menkheperre fuhr sich über den Kopf. Das knisternde Geräusch, das dabei zu hören war, erinnerte den Vierten Gottesdiener daran, dass er am Morgen seinen Rasurtermin versäumt hatte. Und der Anlass war kein besonders Angenehmer gewesen... Er war am vergangenen Tag in West-Waset unterwegs gewesen, um den Arbeitern dort einen Besuch abzustatten. Vor allem, um die Produktion der Uschebtis für den verstorbenen Pharao zu begutachten. Dabei war er direkt in einen Überfall hineingeraten. Wer die Übeltäter waren, konnte er nicht sagen, wohl aber, dass sie es insbesondere auf die ‚Freunde von Ipet-Isut’ abgesehen hatten. Arbeitsgerät und fertige Uschebtifiguren waren zertrümmert worden und zwei Arbeiter aus der Töpferwerkstatt verprügelt. Menkheperre selbst entkam dem Fanatismus der Angreifer nur dank der Hilfe eines der Glasiermeister, der ihn im kalten Brennofen versteckte.
So erreichte er gegen Mittag schmutzig, müde und mit üblen Nachrichten Ipet-Isut. Er traf den Hohepriester im zweiten Hof, bei einer Übungsstunde mit einem der
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