Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Skorpion

Der Skorpion

Titel: Der Skorpion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
Polizei, dass sie die Zielscheibe eines Serienmörders war. Doch welche Erklärung gab es dafür? Wer mochte sie dermaßen hassen? Wer hasste die anderen Frauen so? Sie blickte zum stumm geschalteten Fernseher hin und sah, dass gerade die Lokalnachrichten liefen. Der Bildschirm zeigte ihr eigenes Gesicht, ihr Führerscheinfoto.
    »O nein«, flüsterte sie und schaltete schnell den Ton ein. Eine Reporterin in einem blauen Parka stand im Schneegestöber vor der Notaufnahme des Krankenhauses. Brünett und ernst, mit im Wind flatternder Kapuze, schilderte sie Jillians Entführung. Das Foto auf dem Bildschirm machte bald einer Luftaufnahme von einer schneebedeckten Lichtung inmitten bewaldeter Berge Platz. Am Rand des verschneiten Platzes stand eine einsame Zeder.
    Jillian begann unwillkürlich zu zittern, als sie die Gegend erkannte. Der Schnee um den Baum herum war zertrampelt und matschig, auf dem Boden lagen Seile wie zusammengerollte Schlangen.
    Ihr Magen rebellierte beim Anblick der Nylonstricke, die ihr ins Fleisch geschnitten hatten.
    Deputys vom Büro des Sheriffs untersuchten den mit Flatterband abgesperrten Tatort; von einem Hubschrauber aus wurde die Szene mit einer Kamera aufgenommen. Jillian gab sich selbst den Rat, den Fernseher auszuschalten, doch die Bilder vom Schauplatz ihres Beinahe-Todes übten eine makabre Faszination auf sie aus. Trotz des warmen Krankenhausbetts fröstelte sie. Sie erinnerte sich, mit dem Gefühl der rauhen Rinde am Rücken aufgewacht zu sein, es war so kalt, dass ihre Haut brannte, und die Nylonseile gruben sich schmerzhaft in ihr Fleisch.
    Sie erinnerte sich an die behandschuhten Hände, die ihr den mit einer Chemikalie getränkten Lappen aufs Gesicht drückten. Und an eine Narbe am Handgelenk. Oder war es ihr eigenes Handgelenk? Sie sah nach, suchte nach einer halbmondförmigen Narbe. Da war nichts. War es eine Erinnerung? Oder Teil eines Alptraums?
    Denk nach, Jillian, denk nach,
ermahnte sie sich, während der Nachrichtensprecher ins Bild kam, der zu ihrem Entsetzen die Namen und Fotos der Frauen präsentierte, die den Überfall des Wahnsinnigen nicht überlebt hatten – Fotos von lebendigen, lächelnden Frauen. Jillian musste beinahe würgen, als die Stimme aus dem Off fortfuhr und ein weiteres Bild eines lächelnden Opfers den Bildschirm ausfüllte.
    »… und neuesten Meldungen zufolge wurde das andere überlebende Opfer des Mörders, bisher noch nicht identifiziert, in kritischem Zustand in ein Krankenhaus in Missoula eingeliefert. Wie wir hörten, ist das Opfer noch nicht wieder bei Bewusstsein …«
    Noch eine Frau hatte überlebt?
    Gespannt verfolgte Jillian den Rest der Nachrichtensendung, die sehr ausführlich über den »Sternmörder« und seine Opfer berichtete. Sie erfuhr Näheres über die Opfer, wie sie das gleiche Schicksal wie sie erleiden mussten, nackt an einen Baum gefesselt, in den über ihren Köpfen ein Stern geritzt worden war. Sie schaltete den Fernseher aus und sah noch einmal aus dem Fenster hinaus in die Nacht. Es schneite heftig, Millionen winzig kleiner Flocken tanzten im Licht der Überwachungskameras.
    Möglicherweise stand in diesem Moment der Mörder draußen. Und wartete.
    Leise Musik drang vom Flur herein, eine Instrumentalversion von »Stille Nacht«. Jillian war erschöpft und tief im Inneren verängstigt. Ja, sie hatte überlebt, aber wer sagte, dass der Mörder es nicht noch einmal versuchte? Sie dachte an Zane MacGregor, der hinter Gittern saß, und Harley, der zwar noch lebte, aber Schmerzen litt … Alles wegen eines Verrückten, der sie umbringen wollte.
    Warum?
    Wer?
    Wen hatte sie sich unbekannterweise zum Feind gemacht? Zu einem Feind, der entschlossen war, sie umzubringen?
    Wieder die gleichen alten Fragen.
    Sie dachte an Aaron und ihre Ehe, wie angespannt und geistesabwesend er manchmal gewesen war. Manchmal hatte er sich so verhalten, als sei sie gar nicht mit ihm im selben Raum. Jillian gähnte, wehrte sich gegen die Müdigkeit. Aaron hatte nicht gern in Seattle gelebt. Mit seinem unsteten Herzen sehnte er sich fort aus der Trübsal der Stadt, irgendwohin, wo er den Wechsel der Jahreszeiten deutlicher spürte. Immer wieder sprach er davon, nach Osten zu ziehen, jenseits der Berge …
    Ihr taten sämtliche Knochen weh, und ihr wurde bewusst, wie ausgebrannt sie tatsächlich war. Sie konnte kaum die Augen offen halten und vermutete, dass das Krankenhauspersonal ihr irgendein Beruhigungsmittel in den Tropf gegeben

Weitere Kostenlose Bücher