Der Skorpion
hatte.
Doch für diese Nacht wollte sie aufhören, sich Gedanken über die Gefahr zu machen, die draußen vor den Fenstern lauerte. Vielleicht konnte sie vergessen, dass etwas Todbringendes auf sie wartete. Diese Nacht würde sie warm und beschützt im Krankenhaus verbringen. Doch gleich am nächsten Morgen wollte sie raus.
Während sie in Schlummer sank, gingen ihr die Worte des Weihnachtslieds durch den Kopf. »Stille Nacht, heilige Nacht.«
Mit einem Gefühl des Unbehagens schlief sie ein.
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21. Kapitel
M acGregor ist nicht der Gesuchte«, knurrte Pescoli und stellte ihr Fahrzeug vor Shorty’s ab, einem rund um die Uhr geöffneten Imbiss nicht weit vom Büro des Sheriffs an der Hauptstraße. Shorty, vor der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert Koch in einer Bergbaugesellschaft, hatte das einfache Restaurant im vergangenen Jahrhundert eröffnet, und obwohl er schon lange tot war, war sein Name in flackerndem Neonlicht auf einem riesigen Schild am Straßenrand immer noch unauslöschlich in die Landschaft geprägt.
»Ich dachte, du wärst von seiner Schuld überzeugt.«
Pescoli spuckte ihren geschmacksneutralen Kaugummi in das Stanniolpapier und warf es in den Aschenbecher. Statt sich Alvarez’ Nörgelei wegen des Rauchens anzuhören, hatte sie ein Päckchen Nikotinkaugummi aus ihrer Tasche gekramt und sich einen Streifen in den Mund geschoben. Darauf kaute sie seit etwa einer Stunde herum, als hinge ihr Leben davon ab. »Ich hatte es gehofft.« Sie schaltete den Motor aus und öffnete so schwungvoll die Tür ihres Jeeps, dass sie beinahe gegen einen schief eingeparkten King Cab geschlagen wäre. »Ich habe mir gewünscht, dass er der Schuldige wäre.« Sie verriegelte die Tür und stapfte durch den Schnee, der unaufhörlich vom Himmel fiel. Würde das Wetter irgendwann einmal lange genug umschlagen, dass sie Luft schnappen konnten?
»Ich auch«, gestand Alvarez.
Shorty’s befand sich in einem langgestreckten, niedrigen Gebäude mit spitzem Dach, auf dem sich derzeit der Schnee türmte. Eiszapfen hingen von der Dachrinne, und der Jahreszeit entsprechend, hockte ein grinsender, zwinkernder Weihnachtsmann neben dem ursprünglichen Schornstein. Nicht wirklich liebenswürdig, dieser Weihnachtsmann. In Pescolis Augen erschien er wie ein Perverser mit falschem Bart in rotem Anzug, ein gruseliger alter Knacker, dessen Abbild auf eine Sperrholzplatte gemalt worden war.
Sie stieß die gläserne Doppeltür auf und betrat den Speiseraum des Restaurants. Heiße, nach Gebratenem riechende Luft schlug ihr ins Gesicht. Der weite Raum mit den abgenutzten Bodendielen war weitgehend leer. Fürs Abendessen war es zu spät, und die wenigen Gäste hatten sich in die Sportbar zurückgezogen, die durch einen kurzen Flur zu erreichen war. Darin hielt ein alter Zigarettenautomat von circa 1960 unter Weltraum-Hängelampen Wache.
Bei Shorty kehrte Pescoli regelmäßig ein, und gleich neben der Tür nahm sie eine in Plastik eingeschweißte Speisekarte an sich, bevor sie zum Speisebereich durchging. Sie zog Jacke, Handschuhe und Mütze aus, warf alles auf eine Kunstlederbank in einer Nische und setzte sich. Auch Alvarez legte ihre Wintersachen ab, ließ sich jedoch Zeit genug, um Handschuhe und Mütze in die Taschen ihrer Jacke zu stopfen und diese an einem seitlich an der Nische angebrachten Pflock aufzuhängen. Sie saßen einander gegenüber, Alvarez wie immer so, dass sie den Eingang im Auge behalten konnte.
Sie waren beide schlechter Laune, weil sie in ihrem Fall wieder am Ausgangspunkt angelangt waren, und Pescoli brauchte Trostfutter. Aufs Trinken würde sie an diesem Abend verzichten, weil sie, obwohl sie offiziell dienstfrei hatte, noch an dem Fall arbeitete. Das taten alle. Es bedeutete jedoch nicht, dass sie nicht in rauhen Mengen Fett und Kalorien zu sich nehmen konnte.
In MacGregors Hütte hatten sie keinerlei Hinweise gefunden, dass irgendwelche Opfer dort gefangen gehalten wurden. Abgesehen davon, dass er Jillian Rivers »gerettet« und sie während der Schneestürme bei sich behalten hatte, sprach nichts weiter gegen ihn als die Tatsache – und die war nicht viel wert –, dass er ein paar Karten der Umgebung sowie eine Sammlung von Astrologiebüchern besaß. Es sah einfach nicht so aus, als hätte er Jillian Rivers etwas antun wollen, vielmehr hatte er sie nicht nur einmal, sondern zweimal vor Schaden bewahrt.
Was ihnen die Arbeit erschwerte.
Mit knurrendem Magen überflog Pescoli die Speisekarte, die sie
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