Der Skorpion
dem Gewissen hat?« Sie nahm einen herzhaften Bissen und schmeckte kaum die Mischung aus Corned Beef, Schweizer Käse, Sauerkraut und Soße, womit auch immer der Koch das Roggenbrot belegt hatte. Stattdessen flammte Regans alter Zorn wieder auf, die Wut, die sie sonst zu unterdrücken suchte, um kühlen Kopf zu bewahren. An diesem Abend war es ihr in Anbetracht der steigenden Anzahl terrorisierter und ermordeter Frauen nicht möglich. Ihr Gehirn arbeitete überstürzt, und sie hatte eine Heidenangst, dass das bei der verlassenen Hütte gefundene überlebende Opfer starb, bevor es den Angreifer identifiziert hatte.
Pescoli verzehrte das halbe Sandwich, dann wandte sie sich der dazu servierten Gewürzgurke zu. Dieser Fall wies einfach zu viele Unstimmigkeiten auf. Zum einen waren es die falschen Seile. Alle anderen hatten bisher aus gedrehten Sisalfasern bestanden – doch das Seil, mit dem Jillian gefesselt wurde, war aus geflochtenem Nylon. »Du hast recht, wir haben es mit einem waschechten Trittbrettfahrer zu tun, es sei denn, dem Kerl ist der Sisal ausgegangen oder er will uns an der Nase herumführen.« Sekundenlang fixierte sie ein Aluminiumbäumchen, das sich unter einem pinkfarbenen Strahler drehte, in entgegengesetzter Richtung zu dem sich ebenfalls drehenden Schaukasten für gekühlte Torten auf dem Tresen. »Und wieso Jillian Rivers? Einfach nur Pech? Ihr Fahrzeug war das erstbeste, das vorbeikam, und er wollte die Gelegenheit wahrnehmen?«
»Oder hat der Trittbrettfahrer sie nach irgendwelchen Kriterien ausgesucht?«
»Viele Fragen und keine Antworten.«
Alvarez seufzte und sagte: »Ich gebe es nicht gern zu, aber in diesem Fall sehe ich die Sache genauso wie Chandler. Ich schätze den ersten Mörder als jemanden ein, der sein Spielchen mit uns treibt, uns zeigen will, dass er viel schlauer ist als wir. Er bleibt bei der gleichen Methode, damit wir wissen, dass
er
es war. Jillian Rivers ist eine Abweichung. Nicht nur das Seil spricht dafür, dass sie eine andere Art von Opfer ist. Keines der vorigen wurde mit Äther betäubt, oder? Oder zum Tatort getragen?« Sie rührte in ihrer Suppe. »Nein. Sie wurden nackt zu der Stelle getrieben, an der sie umgebracht wurden, mit einem Messer bedrängt oder einer anderen Waffe, scharf genug, um rasiermesserähnliche Schnitte in der Haut zu hinterlassen. Und die Fußabdrücke im Schnee zeigen nur eine Spur, die dort, wo wir Jillian Rivers gefunden haben, hinführt und wieder fort. Ihre Fußabdrücke waren nicht vorhanden.«
»Sie sagt ja, dass sie getragen wurde. Und MacGregors Spuren waren da.«
»Außer seinen. Die anderen Spuren waren kleiner als seine von Größe zwölf. Sie waren eher Größe acht oder neun, also kein sonderlich großer Mann.«
»Einer, der auf Jillian Rivers steht.«
»Genau. Wieder so eine Frau ohne Feinde.«
»Oh, sie hat Feinde, mindestens einen, vielleicht zwei.«
»Wer?«, fragte Alvarez und zog interessiert die Brauen hoch.
»Sie ist geschieden, nicht wahr? Glaub mir. Sie hat Feinde.«
»Manche Scheidungen erfolgen einvernehmlich.«
Pescoli schnaubte verächtlich und biss in ihr Sandwich. »So spricht eine Frau, die nie verheiratet war. Und jetzt kommt’s. Ich kann ihren Ex nicht leiden. Ich habe mit Mason Rivers gesprochen. Er ist ein bisschen zu aalglatt für meinen Geschmack.« Sie machte sich über den Rest ihres Sandwichs her, und Alvarez löffelte ihre Suppe. Beide schwiegen.
Pescoli musste immer wieder an die Frau denken, die in einem Krankenhaus in Missoula im Koma lag. Dieses Opfer mit den Initialen D und E war die Schlüsselperson in dem Fall, von so großer Bedeutung, dass sie rund um die Uhr unter Polizeischutz stand. Für Jillian Rivers war ebenfalls Bewachung abgestellt, obwohl Pescoli widerwillig Alvarez’ Theorie unterstützte, dass Ms. Rivers das Opfer eines wild entschlossenen Trittbrettfahrers war. Ein Verrückter? Oder einer, der auf diese widerwärtige Art Ruhm suchte oder etwas anderes, etwas Persönlicheres austrug?
Alvarez schob den erst halb geleerten Salatteller von sich und fasste ihre eigenen Sorgen in Worte. »Für die Frau, die wir bei Broken Pine gefunden haben, sieht es nicht gut aus. Die Ärzte haben nicht viel Hoffnung.«
»Ich weiß«, sagte Pescoli. Sie ließ ein Viertel ihres Sandwichs auf dem Teller zurück, trank aber ihren Milchshake aus. Ein Paar mittleren Alters betrat das Lokal und suchte sich eine ruhige Nische. Sie sahen aus, als wären sie seit zwanzig Jahren verheiratet und
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