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Der Skorpion

Der Skorpion

Titel: Der Skorpion Kostenlos Bücher Online Lesen
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hatte diesen Mann geliebt.
Geliebt.
Mit ihm gelebt. Ihn geheiratet. Ihn verloren. Und um ihn getrauert. O Gott, wie sehr sie um ihn getrauert hatte!
    Und jetzt sollte er
am Leben
sein?
    Sie atmete langsam aus, schien gar nicht bemerkt zu haben, dass sie die Luft angehalten hatte. Ihre linke Hand zerknüllte den Umschlag, aus dem die Fotos gefallen waren.
    Er lebte?
    Aaron Caruso, ihr Collegeschwarm, der Mann, den sie in solcher Naivität geheiratet hatte, war nicht im Urwald von Surinam umgekommen? Hatte er sie belogen? Sie herzlos verlassen, um mit dem Geld seiner Investoren durchzubrennen? Keinen Gedanken daran verschwendet, dass sie ebenfalls verdächtigt werden würde? Dass die Polizei annehmen würde, sie wüsste, was aus ihm geworden sei? Konnte er so grausam gewesen sein?
    Jillians Beine drohten nachzugeben. Nein. Dieser Mann auf den Schnappschüssen konnte nicht Aaron sein, höchstens jemand, der ihm entfernt ähnelte. Dieser Bart verdeckte die Kinnlinie. Aarons Kinn war kantig und stark. Und die Sonnenbrille verbarg die Farbe und Form seiner Augen. Aarons Augen waren tiefbraun und standen weit auseinander, seine Nase war durch eine Basketballverletzung gebrochen … Sie betrachtete die Fotos noch einmal genauer und glaubte, einen kleinen Buckel auf der Nase zu entdecken.
    Natürlich waren zehn Jahre vergangen, seit sie ihren ersten Mann zuletzt gesehen hatte. Falls er noch lebte, hatte er sich verändert. Sah aus wie der Mann auf dem Foto, der bestimmt zehn Pfund schwerer war und einen Bart trug. Aber das Haar, dieses hellbraune Haar mit dem ausgeprägten spitzen Haaransatz, war das gleiche – dicht und wellig. Eben typisch Aaron.
    Was hatte es zu bedeuten, wenn diese Fotos echt waren … wenn Aaron tatsächlich noch lebte? Er würde sich ein eigenes Leben aufgebaut haben. Eine Frau und Kinder. Ein Zuhause.
    Fall nicht darauf rein, Jillian,
ermahnte sie sich, doch es war schon zu spät. Sie war bereits halbwegs überzeugt davon, dass die Fotos ihren ersten Mann zeigten, von dem alle, einschließlich der Versicherungsgesellschaft und der Behörden, annahmen, dass er abgeglitten, in eine tiefe Schlucht und dann in einen tosenden Fluss gestürzt war, von dessen Strömung er mitgerissen wurde und ertrank.
    Vermutlich
ertrank.
    Das Festnetztelefon klingelte, und Jillian schrak zusammen. Mit der restlichen Post und den Fotos in der Hand ging sie durch den Flur hinüber in das kleine Wohnzimmer und hob den Hörer schnell ab. »Hallo?«, sagte sie und sah, dass die Nummer des Anrufers wieder einmal unterdrückt war.
    »Er lebt«, zischte diese körperlose Stimme wieder.
    »Wer spricht? Ich habe keine Lust auf Ihre Spielchen.«
    »Schau deine Post und deine E-Mail an.«
    »Was wollen Sie?«
    Klick.
    Jillian legte auf und verspürte eine so maßlose Wut, dass sie kaum eines klaren Gedankens fähig war. Wer tat ihr das an? Aaron nicht, auch nicht, wenn er noch am Leben sein sollte. Wer dann? Und warum?
    Jillian fühlte sich, als hätte der Atem eines Gespenstes ihren Nacken gestreift. Entweder wollte sie der unbekannte Anrufer ärgern, ihr einen perversen Streich spielen, oder das Undenkbare war geschehen, und Aaron war von den Toten auferstanden.
    Jillian schloss die Augen.
Zehn
Jahre. Ein ganzes Jahrzehnt! Es konnte nicht sein, dass er noch lebte. Das ergab überhaupt keinen Sinn, und doch … und doch …
    Geh zur Polizei,
riet ihr eine innere Stimme, als sie sich aus ihrem Mantel schälte, zur Garderobe im vorderen Teil des Hauses zurückging und ihn an dem schmiedeeisernen Kleiderständer neben der Haustür aufhängte. Ihr Blick fiel auf den kaputten Regenschirm; sie richtete die zerbrochenen Speichen, so gut es ging, und schob ihn in den Schirmständer. Immer zwei Stufen auf einmal, stieg sie die Treppe zum ersten Stock hinauf und ging in ihr Arbeitszimmer, das, wenn das Schrankbett ausgeklappt wurde, auch als Gästezimmer diente. Der Computer war eingeschaltet und startbereit; die Palmen auf dem Bildschirmschoner winkten versonnen wie Arme, die sie in ein fernes Land lockten, wo immer die Sonne schien.
    Jillian rückte ihren Schreibtischstuhl zurecht, setzte sich und öffnete ihr E-Mail-Konto. Sie fand eine Mail mit einem Anhang, die durch den Spamfilter geschlüpft war. Als sie sie öffnete, tauchten, was sonst, dieselben drei Fotos auf, von einem Bärtigen, der ihr verstorbener erster Mann sein sollte.
    Sie sah sich die E-Mail-Adresse näher an, versuchte, eine Antwort zu senden, doch natürlich konnte

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