Der Skorpion
ihre Mail nicht zugestellt werden.
Zurück auf der Startseite, stach ihr eine Schlagzeile ins Auge: SERIENMÖRDER IN MONTANA . Der Artikel sprach von zwei Frauen, die tot in abgelegenen Gegenden der Bitterroots gefunden wurden, doch Jillian war von den Fotos von Aaron so abgelenkt, dass sie nicht weiterlas.
Sie vergrößerte die Fotos und stellte sie schärfer. Da sie beruflich mit dem Computer und mit Bildbearbeitung zu tun hatte, war das ein Kinderspiel für sie. Seit fünf Jahren erstellte sie Prospekte, reale und virtuelle, für Kunden von Universitäten bis zu Reiseagenturen und –gruppen. An den Wänden in diesem Zimmer hingen dagegen ihre eigenen Fotografien, farbenfrohe Bilder von exotischen Gegenden und zu Gaststätten umgebauten schönen Häusern. Es gab Bilder von einem herrlichen Sonnenuntergang an der Küste Oregons, von den tiefverschneiten Cascade-Bergen, von einem Angelausflug auf dem Kenai-Fluss in Alaska und von einem hundertundfünfzig Jahre alten Hotel in der zerklüfteten Columbia-Gorge.
Mit Hilfe von Programmen zur Vergrößerung, Schärferstellung und Farbgestaltung spielte Jillian mit den Fotos, entfernte den Bart und die Sonnenbrille des Mannes, ließ sein Haar ein paar Millimeter wachsen, ließ ihn zehn Pfund abnehmen. Mit jeder Veränderung schlug ihr Herz ein wenig schneller, spannten sich ihre Nerven an und verstärkten sich ihre bösen Vorahnungen.
Zum Schluss war der Mann auf den Fotos ihrem lange nicht gesehenen ersten Mann wie aus dem Gesicht geschnitten.
Jeder kann einen Menschen verändern. Du hast zahllose Kurzfilme von Menschen gesehen, die sich von einer Person in eine andere verwandelten. Du hast die Vorher-nachher-Fotos von Models auf den Titelseiten von Zeitschriften gesehen. Du weißt, wie man ein Foto umgestalten kann.
Es könnte auch einfach nur ein Schwindel sein.
Aber
warum?
Und wer steckte dahinter? Mason, in Missoula?
Bei dem Gedanken schüttelte sie den Kopf. Falls Mason ihr Informationen zukommen lassen wollte, würde er sie einfach anrufen und ihr die Fakten nennen. Und wenn er hinterrücks vorgehen wollte, hätte er den Umschlag aus einer anderen Stadt abgeschickt. Er wusste schließlich, dass sie nicht dumm war.
Aber wie steht’s mit seiner neuen Frau, dieser Sherice? Sie konnte dich noch nie ausstehen. Und seine Mutter, Belle – die Frau hat dich von Anfang an nicht gemocht.
Es erschien ihr weit hergeholt. Sie und Mason hatten kaum noch Kontakt, und Sherice, Masons Rezeptionistin, hatte ihr zwar offen ihre Abneigung gezeigt, als Jillian und Mason noch verheiratet waren, aber seit sie die zweite
bedeutend jüngere
Mrs. Mason war, hatte Sherice’ Feindseligkeit sich gelegt. Sherice hatte den großen Preis gewonnen und war nun seine Trophäenfrau. Warum sollte sie also jetzt Ärger machen?
Jillian lehnte sich zurück und tippte mit dem Radiergummiende ihres Bleistifts auf die Armlehne, während sie eines der Bilder auf dem Monitor betrachtete. Sie hörte ein leises Miauen, und dann tapste Marilyn zur offenen Tür herein, sah den freien Platz auf Jillians Schoß und sprang hinauf.
»Hey, Süße«, sagte Jillian und streichelte gedankenverloren den Kopf der Katze. »Was meinst du?«
Die Katze antwortete, indem sie sich auf ihrem Schoß zusammenrollte, während Jillian immer noch überlegte, ob ihr längst verstorbener Mann plötzlich wieder auferstanden war und warum irgendwer wollte, dass sie es wusste.
»Das ist ein Problem«, vertraute sie Marilyn an und wusste im gleichen Moment, dass sie es nicht ruhenlassen konnte.
Sie musste die Wahrheit herausfinden.
Und sei es nur, um sich selbst zu rehabilitieren.
Ganz gleich, wie schmerzhaft es auch sein mochte.
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4. Kapitel
I ch stehe am Fenster, nackt.
Allein.
Warte.
Während der Sand langsam durchs Stundenglas rieselt.
Die heraufziehende Nacht ist klar, Schatten spielen dunkel. Ein Wind, hohl heulend und wild, fegt mit dem Versprechen von Tod durch die Schluchten. In der Tiefe der Hütte höre ich sein Klagen.
Er will mich,
denke ich.
Er will sie.
Er ist genauso hungrig wie ich.
Gut.
Ich fühle den Schmerz, das leise Pulsieren und spähe durch die vereisten und mit verwehtem Schnee bestäubten Fensterscheiben.
Nackte Äste der einsamen Bäume rascheln und tanzen, wie flehend zum Himmel erhobene Arme eines Skeletts.
Als ob Gott interessiert wäre.
Ich spüre den Drang, nach draußen zu gehen. Die Kälte reizt mich, ich sehne mich danach, in eisigen Windstößen auf meiner nackten
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