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Der Sog - Thriller

Titel: Der Sog - Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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gewesen, die sich Hannah vorgestellt hatte, sondern ein Wald wie dieser: üppig, gesund und wild, voller Myrtengewächse mit kräftigen Stämmen, glänzender Eschen, überladener Feigen und wuchernder Wandelröschen. Bäume so hoch wie Kirchtürme, manche so dicht mit Kletterpflanzen bewachsen, dass sie wie Dinosaurier mit grünem Pelz aussahen. Der Wald war wunderschön. Als sie daran vorbeiging, verließ sie den Gehsteig und ging auf dem Kiespfad, der durch den Grasstreifen am Waldrand führte.
    Es war ja außerdem nicht so, als würde der Wald einem etwas tun. Natürlich konnte man sich verlaufen und erfrieren, oder man konnte sich den Hals oder ein Bein brechen, aber wenn man aufpasste, war man im Wald so sicher wie nur irgendwo. Es waren Menschen, die andern Menschen Schaden zufügten.
    Und genau in dem Moment, als sie das dachte, erschien es Hannah, als würde sie drei Dinge gleichzeitig sehen.
    Das erste war unwichtig: Jemand hatte schwarze Metallpfosten in die Erde neben dem Pfad getrieben und dazwischen ein Schild aus weißem Kunststoff aufgehängt.
    Zweitens stand ein Mann auf der andern Seite der Carmichael Road. Er hatte auf das Schild geblickt, aber nun beobachtete er Hannah.
    Das dritte war so aufregend, dass ihr Herz zu rasen begann. Der Anblick ließ sie die beiden andern Dinge auf der Stelle vergessen. Es lag mitten auf dem Weg und funkelte wie ein riesiger Edelstein im Sonnenlicht.
    Es war ein Einhorn.
    Es schien aus Glas zu sein, aber als Hannah näher kam, war sie sich nicht mehr so sicher. Glas war normalerweise glatt und gewölbt; das hier hatte feine, wie gemeißelte Beine, mit kleinen Wellen darin und kräftig. Sie konnte die Riefen im Horn sehen, die Einzelheiten in der struppigen Mähne des Tiers, die wunderschönen, klugen Augen. Die Flanken waren gewölbt und muskulös. Es sah wie gefroren und lebendig zugleich aus, mehr wie aus Eis als wie aus Glas, oder vielleicht wie aus einem zauberhaften, durchsichtigen Holz geschnitzt. Es war das Schönste, was Hannah je gesehen hatte.
    » Entschuldige!«
    Hannah blickte widerwillig auf – sie wollte die Augen nicht von dem Einhorn nehmen. Der Mann überquerte die Straße und kam auf sie zu. Er will das Einhorn, dachte sie hektisch. Es ist sein Einhorn, aber ich will es haben!
    » Kleines Fräulein?«, rief er.
    Hannah überlegte. Sie hatte noch Zeit. Sie konnte die wunderschöne Figur aufheben, in ihre Tasche stecken und wegrennen.
    » Tu es nicht!«
    Sie bückte sich und hob das Einhorn auf.
    Es war, als würde die Erde einen Satz zur Seite machen. Sie taumelte. Der Himmel schien sich zu verdüstern. Die Sonne sank tiefer. Der Wald, eben noch so gutartig und einladend, ragte plötzlich dunkel und drohend auf. Sie schaute auf ihre Hände hinab.
    Statt des strahlenden Einhorns hing ein toter Regenpfeifer schlaff in ihrer Hand. Der Kopf des Vogels war abgeschnitten und durch eine aus Zweigen geflochtene Kugel mit einem komischen Zeichen darauf ersetzt worden. Es war grässlich. Furchtbar. So tot.
    Sie starrte das Ding an und war eben im Begriff zu schreien, als der Mann sie an den Armen packte.
    Nicholas starrte an die Decke seiner Wohnung und kam zu dem Schluss, dass es tatsächlich Stuck war. Es war der einzige Schluss, zu dem er in den letzten zwei Stunden gelangt war. Er war wie eine Fliege um den Esstisch und das offene Notizbuch herumgebrummt, das dort lag. Er hatte Suzette angerufen und erfahren, dass Nelsons Fieber besser, aber noch nicht ganz verschwunden war, so dass sie in ihrem und Bryans Schlafzimmer ein Bettchen für ihn aufgestellt hatten.
    Nicholas hatte sich gezwungen, sich hinzusetzen und beabsichtigt, eine Liste mit Namen und Orten zu machen – Quill, Bretherton, Sedgely; Laden, Wald, Kirche – um zu sehen, ob ihre Zusammenstellung eine Art Erweckungserlebnis auslösen würde. Doch kaum war er auf seinem Hintern gesessen, war er schon wieder aufgesprungen. Er konnte nicht in der Wohnung bleiben. Er musste raus.
    Er hatte den festen Willen, seine Füße in Richtung Lambeth Street zu zwingen. Suzette hatte erzählt, ihre Mutter habe am Telefon kurz angebunden geklungen, und es könnte vielleicht nicht schaden, sie ein bisschen versöhnlich zu stimmen. Doch in dem Augenblick, in dem seine Füße den Gehweg an der Bymar Street berührten, führten sie ihn in Richtung Carmichael Road.
    Der Wind hatte während der Nacht zugelegt; er zerrte drängend an den Baumwipfeln und ließ die Stromleitungen schaukeln und ächzen. Hoch am Himmel

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