Der Sog - Thriller
zu essen oder zu ficken. In seinem Schritt pochte und wölbte sich eine Erektion, wie er sie so noch nie gehabt hatte. Das Halsband brannte. Er bekam keine Luft.
Dann hörte er sie.
Im Wald. Ein Wispern. Das Rascheln Tausender unsichtbarer dünner Beine auf dunklem Laub. Sie kamen.
Das Mädchen stand stocksteif und starrte auf den toten Vogel in ihren Händen, der Kopf eine Kugel aus Zweigen mit einem Blutzeichen darauf. Thurisaz. Nicholas packte sie an den Armen.
Bring sie.
» Nein!«, schrie er und raffte sie von den Füßen. Er taumelte – sie fühlte sich schwer wie ein Mann an, wie zwei Männer; zu schwer. Er fuhr mit einer Hand unter ihre dünnen Beine. Das Trippeln und Rascheln wurde lauter. Zitternd vor Anstrengung bückte er sich, klaubte den toten Talisman-Vogel zusammen und schob ihn in seine Tasche. Er machte einen wackligen Schritt vom Wald fort, dann noch einen.
Das Knistern im Laub machte einem Rascheln im Gras hinter ihm Platz.
Seine Beine brannten vor Anstrengung, schon breitete sich Laktat wie ein Buschfeuer in seinen Schenkeln aus. Er machte einen weiteren Schritt, noch einen, noch einen … und rannte.
Als er den Asphalt erreichte, warf er einen Blick zurück.
Das Gras wurde schwarz. Es war, als wäre das Wasser einer Überflutung binnen Augenblicken bis zur halben Höhe der Stängel gestiegen. Nur war die Flut kein dunkles Wasser: Nicholas wusste, es war eine anwachsende Welle aus grauen und schwarzen Spinnen.
Er drehte sich um und rannte wie der Teufel.
Das war die letzte Kiste. Pritam zog sie vom Regal herunter, ließ sie unsanft auf den Boden fallen und begann, ihren Inhalt zu leeren.
Das Durchwühlen der anderen Archivkisten hatte einen Mischmasch aus Kuriositäten zutage gefördert: Fotografien eines zwanzig Jahre jüngeren Reverend John Hird, der mit behinderten Kindern unter der Monorail der Weltausstellung lächelte. Ein vergilbender Ordner mit Johns Entlassungspapieren aus dem Fallschirmspringerbataillon; ein Kuvert, das Lage und Nummer des Krematoriumsplatzes seines Bruders enthielt. Das alles legte Pritam beiseite.
Andere Funde waren nicht persönlich und weniger interessant. Reparaturbelege für das Finanzamt, drei Notizbücher mit Buchungen für den Gemeindesaal, eine Aufstellung der Pflanzen auf dem Gelände der Kirche, die Rechnung für einen Matrizendrucker.
Pritam hatte den ganzen Tag lang die Kisten durchforstet, gelegentlich den Anruf eines Kondolierenden entgegengenommen oder einem Besucher an der Tür mit müder und gebrochener Stimme bestätigt, Reverend John Hird sei in der Tat in der Nacht zuvor verstorben, er sei, jawohl, friedlich eingeschlafen und habe sich, ganz recht, schon seit geraumer Zeit nicht wohl gefühlt. John sei ein starker Charakter gewesen, eine anregende Persönlichkeit. Er sei nun gewiss bei seinem Herrn. Ja, es würde einen Gottesdienst geben.
Und nun zur letzten Kiste.
Waren die Kartons davor schon langweiligen Inhalts gewesen, so war dieser geradezu einschläfernd fad. Alte Busfahrpläne. Kartenabrisse von Busfahrten. Ein großer Umschlag mit der Aufschrift » Spendenaktionen«. In diesem gab es vier kleinere Kuverts, das oberste war mit 1970 – 80 beschriftet. Pritam öffnete es.
Es enthielt einige Exemplare eines in dunkelblauer Tinte gedruckten Flugblatts. Darauf wurde für ein Fest geworben: » Spaß für die ganze Familie!« » Sackhüpfen!« » Selbst gebackene Kuchen!« Handgeschriebene Listen von Helfern und ihren Pflichten (R. Burgess, Klapptische aufstellen & Müll forträumen). Verblasste Polaroidfotos des großen Tags: Damen, die scheu lächelnd ihre glasierten Kuchen in die Kamera hielten. Kinder mit langen Haaren und Schlaghosen, die paarweise an den Knöcheln gefesselt waren und lachend rannten. Ein Mann mit breiter Krawatte, der mit dem Zeigefinger drohte, während er ein Stück Kuchen aß. Eine Frau, die ernst in die Kamera blickte.
Pritam verschlug es den Atem.
Die Frau, die in die Kamera schaute, war Eleanor Bretherton.
Er drehte das Foto um. Mit Bleistift geschrieben stand dort in schnörkeliger Handschrift: » Mrs. L. Quill. Hat $ 60 zur Finanzierung des Fests am 17. Mai 1975 beigetragen.«
Pritam lehnte sich zurück.
Er fühlte sich wieder klein, ein schmalgliedriger Junge in der Hütte seiner Großmutter, ehe seine Eltern ihn von Indien wegbrachten; der kleine Junge lauschte nach dem Abendessen einer Geschichte seiner Großmutter von einem kleinen Dorf in Uttar Pradesh, wo alle Kinder bei lebendigem Leib
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