Der Sog - Thriller
Letzteres entschieden hatte.
Sie waren zusammen zur Schule aufgebrochen, Miriam durch und durch süß und fröhlich und bis später, Mum. Aber kaum war das Haus außer Sichtweite, war sie so schnell und grausam auf Hannah losgegangen wie einer von diesen Wanderfalken, die man in Fernsehdokumentationen sieht, wenn sie blitzschnell auf eine Feldmaus niederstoßen und ihnen die Eingeweide herausreißen. » Warte nur, du kleines Miststück«, hatte sie gezischt und dann die ganzen zwei Kilometer bis zur Schule knallhart geschwiegen.
Dort angekommen vergaß Hannah die Wut ihrer Schwester schnell wieder, und der Tag plätscherte angenehm der letzten Stunde entgegen, Hannahs Lieblingsfach: Kunst und Handwerken. Hannah war gut in Kunst und liebte das satte Gefühl von Schöpfung, wenn sie dick Acrylfarbe auf einen Pinsel schmierte und ihn über jungfräulich weißes Papier gleiten ließ, wenn aus nichts etwas entstand. Mrs. Tho (die Hannah für die schönste Frau auf der Welt hielt, und die immer geduldig war) sagte, Hannahs Gemälde seien wundervoll und sie solle nicht vergessen, dass das Schulfest bevorstünde, wo sie ein paar von ihren Werken vielleicht ausstellen konnte. Die Idee löste wohlige Schauder in Hannah aus, und die Vorstellung, dass andere Leute ihre Werke sehen – und vielleicht kaufen – würden, war … na ja, einfach geil.
Davon beseelt hatte sie das leere Papier am heutigen Nachmittag mit Begeisterung in Angriff genommen, und es war etwas Kraftvolles, Hübsches und köstlich Verrücktes dabei herausgekommen. Es war ein Pferd, das in einem Herrenanzug in einem Supermarktgang Seepferdchen kauft. Weiß der Himmel, woher das Bild gekommen war. Aber es brachte Hannahs Klassenkameraden zum Lachen und Mrs. Tho zum Lächeln. Hannah konnte es kaum erwarten, das Bild Miriam zu zeigen, die normalerweise der größte Fan ihrer kreativen Talente war.
Aber nicht heute Nachmittag.
Gletscherartige Kälte ging von Miriam aus, als sie sich auf den Heimweg machten. Hannah versuchte, ihre ältere Schwester in ein Gespräch zu verwickeln, indem sie ihr von dem Schulfest erzählte. Sie begann das neue Bild zu entrollen, aber auf dem Hügel hinter der Schule blieb Miriam abrupt stehen.
» Ich will nicht mit dir reden, du diebisches kleines Miststück. Ich werde über die Silky Oak Street nach Hause gehen. Du nimmst den anderen Weg.«
Hannah zog es ängstlich den Magen zusammen. Der » andere Weg« war entlang der Carmichael Road. Seit Dylan Thomas’ Verschwinden durften sie und Miriam nicht mehr an der Carmichael Road entlanggehen. » Wieso das?«, hatten sie sich leiernd beschwert – obwohl sie ohnehin lieber über die Silky Oak Street gingen, weil sie dann an den Läden in der Myrtle Street vorbeikamen, wo sie ein Cornetto kaufen konnten (wenn reichlich Mittel da waren) oder sich einen Bounty-Riegel teilten (wenn sie knapp bei Kasse waren). Mum hatte mit ernster Miene erklärt, der Wald an der Carmichael Road sei zu groß, und sorglose kleine Mädchen könnten dort leicht verloren gehen. Und jetzt zwang Miriam Hannah, daran vorbeizugehen.
» Miriam …«
Miriam ging ein paar Schritte und fuhr herum, ihre Augen leuchteten wild. » Ich meine es ernst, du blöde Kuh!«, fauchte sie. » Wenn du mir folgst, schlag ich dich grün und blau!«
Hannah stand wie erstarrt da. Noch nie hatte sie ihre Schwester so wütend gesehen. Sie erinnerte sich an eine Warnung, die sie von Mum aufgeschnappt hatte: Miriam macht gerade eine schwierige Phase durch. Sie wird schnell erwachsen, und eine Menge Veränderungen passieren mit ihr. Wahrscheinlich wird sie ein bisschen reizbar sein.
Puh, das kannst du laut sagen, dachte Hannah.
Sie sah Miriam auf ihren langen, dünnen Beinen davonstelzen. Sie unterdrückte das plötzliche Bedürfnis zu weinen, rollte langsam ihr Bild wieder zusammen und ging zum Ende der Schulstraße, wo sie in die Carmichael Road abbog.
Ich sag es, dachte Hannah hasserfüllt. Ich sag Mum, dass Miriam das F-Wort benutzt hat. Und damit es richtig sitzt, werde ich erst gestehen, dass ich ihren Lippenstift benutzt habe, und dann werde ich weinen.
Ein wenig aufgeheitert von diesem Plan ging sie unbeschwerter weiter. Der Nachmittag war warm, und sie öffnete ihre Schuljacke. Rechts von ihr kam der Wald näher. Er sah schön aus: dicht, geheimnisvoll und alt. Wenn Dad Geschichten von Prinzessinnen vorgelesen hatte, die Jahre in smaragdgrünen Wäldern verschliefen, waren es keine dichten europäischen Nadelwälder
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