Der Sog - Thriller
gefesselten Händen und einem Schuss in den Kopf aus dem Tigris gezogen wurden?
Des Nachts allerdings zitterte Katharine. Sie dachte daran, wie sie mit strahlender Miene in Mrs. Quills Laden marschiert war, der alten Frau die Sachen ihrer Kinder gegeben und sie mit freundlichen Worten und einem Lächeln bedacht hatte. Sie hatte diese ohnmächtige Stimme in ihr, die Don Recht gab, gewaltsam zum Schweigen gebracht. Was sonst sollte eine moderne Mutter tun, die sich allein um die Kinder kümmern muss? Sich wegdrehen und das Kreuzzeichen schlagen, sooft das alte Weib vorbeiging?
Und doch hatte sie genau das getan. Sie erinnerte sich an eine kalte Winternacht, es war leer und still wie im Innern einer Vakuumglocke gewesen. Suzette und Nicholas waren noch klein gewesen und hatten in ihren Betten geschlafen, und Don war seit sechs Jahren im Grab. Sie wollte eben selbst zu Bett gehen, als sie leise Trippelschritte auf der Straße hörte. Sie war im Dunkeln zum vorderen Zimmer geschlichen und hatte zwischen den Jalousien hindurchgespäht. Die kleine alte Frau schaute zum Haus herauf, ihr Gesicht war ein schwarzer Schatten. Und doch hatte sich Katharine ihre Augen vorgestellt, leuchtend und funkelnd, tanzend und gierig. Hungrig. Als wüssten sie, dass es zwei schlachtreife kleine Kinder im Haus gab. Im nüchternen Licht des folgenden Tags hatte Katharine über ihre Ängste gelacht. Die alte Schneiderin war wahrscheinlich ein wenig senil und verwirrt, oder sie hatte ein wenig freundliche Gesellschaft gesucht und nicht den Mut aufgebracht, an die Tür zu klopfen.
Doch zwei Tage später hatte man Tristram Boye zwei Vorstädte entfernt tot unter einem Stapel Holz hervorgezogen, die kleine Kehle aufgeschnitten.
Katharine legte ihren Spatel nieder. Vielleicht war es nicht an der Zeit einzuräumen, dass Quill gewonnen hatte, sondern dass sie selbst verloren hatte. Sie sollte dieses leere Haus verkaufen. Auf ihre Tochter hören und sich eine Wohnung in ihrer Nähe kaufen.
Etwas Weißes blitzte in ihrem Augenwinkel auf.
Sie drehte sich um und stöhnte über den Schmerz in ihrem verspannten Nacken und den Schultern. Ein kleiner weißer Terrier trabte fröhlich auf dem Weg an der Hausseite vorbei. Er weckte eine Erinnerung, etwas worüber sie und Suzette vor ein paar Tagen gesprochen hatten. Hatte nicht Quill einen kleinen weißen Hund besessen?
» Husch! Lauf heim, du hässlicher …«
Die Worte erstarben ihr im Mund.
Der Hund blieb bei ihrem Ausruf stehen. Er drehte sich zu ihr und betrachtete sie aus schwarzen Kieselaugen.
Katharine war auf einem landwirtschaftlichen Anwesen aufgewachsen, und Tiere hatten in ihrer Kindheit zum Alltag gehört, aber erst einmal zuvor hatte ein Geschöpf sie mit solch kalter Verachtung angesehen. Es war Frühling gewesen, und eine nistende Elster hatte begonnen, auf jeden herabzustoßen, der sich ihrem Baum neben dem Werkzeugschuppen näherte. Es war Wochenende, und Katharine hatte ihrem Vater geholfen, ein neues Hühnerhaus zu bauen. Er arbeitete an dem Dach des Hühnerstalls, und bat die kleine Katharine, zum Werkzeugschuppen zu gehen und ihm eine Blechschere zu holen. Sie war zum Schuppen marschiert und hatte bei ihren letzten Schritten das trockene Rauschen von Flügeln in der Luft gehört. Sie hob die Hände, und im selben Moment sauste ein schwarzweißer Federblitz an ihr vorbei und ließ ihr das feine Haar um die Ohren wehen. Sie sprintete durch die offene Tür in den dunklen, höhlenartigen Schuppen und drehte sich um. Draußen landete der Vogel in einem Rechteck aus blendend hellem Sonnenlicht. Die Elster hüpfte zum Türrahmen, blieb stehen und spähte in die Dunkelheit des Schuppens. Ihre Augen waren schwarz wie Stein und glänzten kalt. Sie fanden Katharine. Der Vogel beobachtete sie und überlegte, ob er angreifen sollte oder nicht. Und die kleine Katharine wusste, falls er angriff, würde er es ohne jede Zurückhaltung tun, er würde mit jeder Zelle seines Körpers beißen und zustechen, ganz auf die Aufgabe konzentriert, sie zu verletzen. Der Vogel hielt sie in dem Schuppen gefangen, bis ihr Vater sie eine Stunde später weinend dort fand.
Der kleine weiße Hund musterte Katharine nun mit demselben eisigen Blick, seine runden Kohlenaugen prüften sie, und er überlegte, ob er angreifen sollte oder nicht.
Katharine bemerkte, dass sie zum Zerreißen angespannt war. Sie hatte entsetzliche Angst. Entsetzliche Angst vor einem kleinen Hund, der sie in einer Weise anstarrte, wie es
Weitere Kostenlose Bücher