Der Sog - Thriller
kein Hund je zuvor getan hatte. Dann fiel ihr etwas auf: Sein Brustkorb hatte sich noch nicht einmal bewegt. Er atmete nicht.
Weil es kein Hund ist, sagte eine Stimme in ihrem Kopf.
Dann bog das Geschöpf ab und trabte die Stufen zur Hintertür hinauf. Katharine sah, wie er sich mit einer unheimlich flüssigen Bewegung auf die Hinterbeine stellte, mit einer Pfote die Gittertür öffnete und ins Haus schlüpfte.
» Laine!«
Sie rappelte sich auf und rannte los, ohne auf den scharfen Schmerz in ihren Hüften und ihrem Rücken zu achten.
35
Die Wynard war ein Wrack. Sie lag auf der Seite wie der mumifizierte Körper eines vor langer Zeit gestorbenen Elefanten, ihr grauer Rumpf brach an manchen Stellen bereits ein, da Feuchtigkeit und unsichtbare Insekten ihr Werk der Zersetzung beendeten. Die Planken waren verblasst und ausgebleicht wie Kuhknochen. Hoch am Himmel brauste der Wind wie Feuer in den Baumkronen oder wie eine sich endlos überschlagende Welle.
Nicholas hielt die Flinte nur mit einer Hand und sah auf die Uhr. Es war beinahe vier. Die Wintersonne blieb von einer Million Blätter verdeckt, aber er spürte dennoch, wie ihre ferne Wärme rasend schnell schwand. Die Luft in diesem dunkelgrünen Schattenreich war kühl und still. Hannah fröstelte neben ihm.
» Welche Richtung?«, fragte sie.
Er blickte auf die schwarzgrünen Vorhänge ringsum. Der Pfad hatte am Boot aufgehört.
» Ich weiß es nicht mehr.«
Das letzte Mal, als er hier gewesen war, war er bewusstlos von achttausend dünnen Beinen getragen worden, und Garnock war wie ein Höllenreiter auf seiner Brust gesessen.
Das dicht von Ranken, Wurzeln und Stämmen überwucherte Gelände vor ihnen schien anzusteigen. Die Luft aus dieser Richtung hatte einen leicht säuerlichen Stich. Nicholas nahm an, dass der Fluss nicht weit entfernt sein konnte, mit seinen dichten Mangrovenwäldern an den salzigen Schlammufern und dem stinkenden Kot der Flughunde. Er nickte in diese Richtung, und Hannah begann erneut, den Hang hinaufzuklettern.
Während sie sich in dem Halbdunkel einen Weg über von Überschwemmungen gefällte Baumstämme und unter inzestuösen, schlaufenartigen Kletterpflanzen hindurch bahnten, erzählte Nicholas Hannah alles, was er über Rowena Quill wusste. Wie die Frau vor anderthalb Jahrhunderten angekommen war. Von ihren Pseudonymen, ihren Gesichtern, die sie sorgfältig hinter altjüngferlichem Lächeln in den kühlen, dunklen Läden der Myrtle Street verbarg. Von ihren Morden. Ihren Spinnen.
Als er zu Ende erzählt hatte, blieb Hannah eine Weile stumm.
» Sie muss sehr einsam sein«, sagte sie schließlich.
Nicholas sah sie an. Sie zuckte mit den Achseln.
» Vielleicht ist sie deshalb so gemein«, fuhr Hannah fort. » Weil sie traurig ist. Alle, die sie geliebt hat, sind längst tot.«
Nicholas blieb stehen. Die Bäume ringsum waren inzwischen mehr Schatten als Substanz. Selbst Hannahs Gesicht war nur eine graue Maske ohne erkennbare Züge, wie der sandige Grund eines tiefen Tümpels.
» Ich glaube, wir müssen umkehren.«
Hannah blinzelte. » Das geht nicht. Wenn wir sie heute nicht kriegen …« Sie ließ ihre Worte schaudernd ausklingen.
Nicholas nickte.
» Hannah …?« Eine Stimme, fein wie Rauch, drang aus dem dunklen Baumgürtel vor ihnen. Nicholas sah, wie Hannahs Augen groß wurden und ihre Gesichtszüge sich wie zu einer Faust ballten. Sein eigenes Herz begann zu galoppieren.
» Haaannahh?« Eine Mädchenstimme, schmerzverzerrt.
Hannahs Augen flitzten zwischen dem Wald und Nicholas hin und her.
» Es ist Miriam«, flüsterte sie.
Nicholas sah, wie sich eine Gänsehaut auf seinen Armen bildete. Er schüttelte den Kopf. » Nein.«
» Doch! Sie ist nicht tot! Sie haben sich geirrt.«
Sie setzte sich in Bewegung. Nicholas packte sie am Arm und drehte sie herum. Er fasste sie am Kinn und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen.
» Das ist nicht deine Schwester, Hannah. Denk nach.«
Hannah blinzelte. Sie nickte.
» Okay«, sagte er. » Bleib hier.«
Er schaute sich nach einem Orientierungspunkt um, dann brachte er die Flinte in Anschlag und marschierte in die noch tiefere Düsternis.
» Haaannnaah! Hilf mir. Hannaaahh!«
Die Stimme war eine klagende Tapisserie aus Schmerz und Leid. Sie jagte Nicholas Schauder über den Rücken. Was mochte sie bei Hannah bewirken?
Er bewegte sich so schnell er konnte, aber die Bäume waren breit und alt und standen verschwörerisch dicht beisammen. Die Lücken zwischen ihnen wurden
Weitere Kostenlose Bücher