Der Sog - Thriller
sich ihre Hütte auf der andern Seite befindet, muss sie irgendwie durchkommen, oder? Es sei denn, sie kann fliegen.« Sie sah ihn erkennbar beunruhigt an. » Kann sie fliegen?«
Nicholas schüttelte den Kopf. Er kam sich wie ein Idiot vor. Natürlich musste Quill einen andern Durchgang haben.
» Es muss eine Öffnung im Rohr geben.«
Hannah zuckte mit den Achseln, als wäre das ohnehin klar.
Wenn es eine Öffnung im Rohr gab, konnte sich diese irgendwo bis zu einem halben Kilometer weit in beide Richtungen befinden. Es konnte Stunden dauern, sie zu finden, und wie er Quill kannte, würde sie außerdem getarnt sein. Nicholas sah wieder auf die Uhr. Es war halb vier. Die Temperatur begann bereits zu sinken.
» Ich weiß nicht, wo wir anfangen sollen«, sagte er hilflos. » Es wird Stunden dauern, bis wir uns durch dieses Gestrüpp gearbeitet haben, und …«
» Heben Sie mich hoch.«
» Wie bitte?«
» Heben Sie mich hoch«, wiederholte Hannah. Ich kann auf dem Rohr entlanglaufen und von dort aus suchen. Und ich bin schnell. Mein Gleichgewichtssinn ist gut, sehen Sie?« Sie stand auf einem Bein.
Normalerweise hätte Nicholas gesagt, sie sollten umkehren, es lohne sich nicht, dass sie ihren Hals riskierte. Aber er war überzeugt, wenn er vor Einbruch der Nacht nicht mit Quill fertig wurde, würde er der Nächste sein, der starb. Und wenn er Quill nicht tötete, würde sie weitertöten. Und immer weiter.
» Also gut. Ich gehe in die Hocke, und du stellst dich auf meine Schultern, und dann schiebe ich dich an den Füßen nach oben. Okay?«
» Okay.«
Er ging in die Knie. Sie legte die Hände an die Wand des Rohrs und kletterte vorsichtig erst auf eine Schulter, dann auf die andere. Als sie bereit war, stand er langsam auf und merkte zum tausendsten Mal, dass er mehr trainieren sollte – seine Oberschenkel brannten.
» Ja?«
» Los!«
Er fasste sie an beiden Füßen und stemmte sie hoch. Hannah lag ausgestreckt auf der Oberseite des Rohrs und schwang ihre Beine hinauf. Sie stand auf. » Ich bin oben!« Sie grinste und schaute sich um. » Welche Richtung?«
Logik würde sie hier nicht weiterbringen. Nicholas versuchte, seine Gedanken abzuschalten, die tickende Uhr zu vergessen, und plötzlich deutete er einfach in eine Richtung. » Da entlang.«
Hannah nickte zu ihm hinunter und marschierte los, die Arme seitlich abgespreizt wie ein Seiltänzer. Nach wenigen Sekunden war sie hinter den dicht stehenden Bäumen verschwunden. Ihre leichten Schritte hallten noch schwach durch das Metall, wurden leiser und waren schließlich ebenfalls verschwunden.
Nicholas war allein.
Die Minuten schienen sich zu Stunden zu dehnen. Er konnte beinahe spüren, wie die nicht sichtbare Sonne immer schneller im Westen versank. Ein leichter Dunst begann aus dem üppigen Unterholz aufzusteigen wie ein aufgescheuchter Erdgeist. Wo war Hannah? Nicholas hatte schreckliche Phantasien, wie sie auf dem feuchten Rohr ausrutschte, strampelte und fiel und Kopf voran mit dem widerlichen Geräusch brechender Knochen landete, das ihn in seinen Träumen von Cate verfolgte. Er hätte das Kind nicht gehen lassen dürfen. Was hatte er sich nur dabei …
» Mr. Close?«
Leichte Schritte wurden lauter, dann erschien Hannahs blasses Gesicht hoch oben auf dem Rohr.
» Hast du es gefunden?«
Hannah runzelte die Stirn. » Ich weiß nicht. Es sieht komisch aus. Diese Richtung.«
Sie winkte, und er kämpfte sich unten durch das dichte Gestrüpp aus australischen Stechapfel- und Schwarzdornbüschen.
» Es ist nicht weit«, drängte sie.
» Du redest dich leicht, da oben …«
Er hob mühsam ein chaotisches Gewirr aus Ranken beiseite, die stachligen Stängel zerrten an seinen Ärmeln und der Sporttasche, dann war er durch. Er blickte nach oben.
Hannah deutete. » Dort.«
Er folgte ihrem Fingerzeig.
Hätte er nicht danach gesucht, er hätte ihn niemals gesehen. Aber tatsächlich ging ein schmaler Pfad, der fast völlig frei von Unterholz war, im rechten Winkel von dem Rohr ab. Er beugte sich vor, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Der Pfad war nur zwei Handspannen breit, aber die Farne und Schösslinge waren durch jahrelanges Niedertreten zu einem deutlichen, aber gut verborgenen Weg zusammengepresst worden. Der Benutzer des Wegs hatte sorgsam darauf geachtet, immer exakt der gleichen Linie zu folgen. Das Verrückte war, dass der Pfad direkt am Rohr endete.
» Geht er auf der andern Seite weiter?«
Hannah verschwand für einen Moment aus
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