Der Sog - Thriller
Sie schraubte den Deckel ab, schüttete den Inhalt in ihre Hand und fuhr mit den Fingerspitzen darüber. Der Gegenstand war so unvermittelt und schrecklich vertraut, dass sie einen leisen Schrei ausstieß. Ein Zahn, noch mit der langen, gegabelten Wurzel dran. Sie ließ ihn auf den Boden fallen, ging zum nächsten Glas und schüttelte es. Ein leises Schwappen. Das nächste fühlte sich leer an, und als sie es öffnete, fiel ein kleines Stück pelziges Papier in ihre Hand. Als sie den Flecken befühlte, drehte sich ihr der Magen um. Es war ein Stück getrocknete Haut, noch mit den Haaren dran. Ihr Herz raste, aber sie ging weiter die Gläser durch. Doch deren Inhalt war bei einem nach dem andern gleichermaßen widerlich und nutzlos für sie. Nutzlos, nutzlos, nutzlos!
Sie spürte Tränen salzig in ihre Augen steigen und blinzelte heftig. Jetzt war keine Zeit zu weinen. Irgendetwas musste doch zu finden sein. Es gab vier Wände, so viel war klar. Eine war die mit den Regalen voller Gläser. An einer war die Treppe. Die nächste war leer. Die letzte war die, wo sie selbst gehangen hatte, und wo der mumifizierte schwarze Junge noch immer in seinem Kokon hing. Das war die letzte Wand, die sie untersuchen musste.
Hannah streckte die Arme vor und ging mit vorsichtigen Schritten zur letzten Wand. Ihre Finger berührten seidige Fäden und zuckten unwillkürlich zurück. Okay, dachte sie. Das ist er. Was ist neben ihm. Sie tastete behutsam an den dünnen Strähnen vorbei, bis sie wieder die Wand berührte. Nichts, nichts … kalte Erde und stumme Steine. Dann gingen ihre Finger plötzlich ins Leere. Noch ein in die Wand gehauenes Regal?
Sie benutzte beide Hände, um das Loch abzumessen.
Waren die in die Wand gegrabenen Regalfächer vielleicht zwanzig Zentimeter hoch, so war diese Vertiefung hier höher, so hoch, dass sie nicht bis zum oberen Rand hinauflangen konnte, und sie war mindestens einen Meter breit. Sie streckte ihre Hand hinein und zog sie sofort wieder zurück. Was, wenn da drin Spinnen sind?
Vees Stimme antwortete in ihrem Kopf, fröhlich und ernst zugleich. Hier drin werden gleich jede Menge Spinnen sein, Kleines, also mach schon.
Hannah stellte sich auf die Zehenspitzen und langte in das Loch …
Sie berührte etwas Hartes, Flaches und Kaltes. Stahl. Sie tastete und ihre Hand schloss sich um einen schlaufenförmigen Griff. Es war eine Kiste.
Oder ein Sarg.
» Psst«, befahl sie sich zischend.
Sie packte den Griff und zog. Die Kiste quietschte unglücklich, Stahl kratzte über Stein. Sie war schwer, aber sie bewegte sich. Na, dachte Hannah, wenn es ein Sarg ist, ist er zumindest leer. Sie zog weiter, und das vordere Ende der Kiste ragte aus der Wand heraus. Sie stand aber immer noch flach in ihrer Vertiefung. Hannah zog und trat einen Schritt zurück, dann noch einen. Wie lang war dieses Ding? Und wann sollte sie die andere Hand zu Hilfe nehmen, damit es nicht kippte? Aber gerade, als sie sich das fragte, rutschte das hintere Ende der Kiste aus der Wandvertiefung und fiel hart und schnell zu Boden. Eine der vorderen Metallecken schlug ihr gegen die Wange, dann krachte die Kiste laut scheppernd auf den Boden. Hannah verlor ihren Griff völlig, und die Metallkiste fiel und schürfte ihr das Schienbein auf.
Tränen schossen ihr in die Augen, und sie biss sich auf die Lippe, um nicht vor Schmerz zu heulen.
Wenigstens ist sie unten.
Hannah kniete nieder. Alles schien ihr wehzutun, am schlimmsten war das mal heiß, mal kalt pochende Schienbein. Sie biss die Zähne zusammen und befühlte die Kiste. Sie war auf ihren Deckel gefallen. Hannah packte die kalten Stahlecken und hob sie an. Die Kiste drehte sich langsam, und dabei ging der Deckel auf; der Verschluss musste beim Sturz aufgebrochen sein. Irgendwelches Zeug ergoss sich über Hannahs Hände und Unterarme.
Papier. Jede Menge Papier. Kleine Stücke Papier, Tausende kleiner Rechtecke.
O Mann, begriff sie. Das ist …
Sie griff sich eine Handvoll und patschte hinüber zu dem matten grauen Licht unter der Falltür. Der goldgelbe Kunststoff aktueller Fünfzig-Dollar-Noten. Das rote Papier alter Zwanziger. Eine graugrüne Note mit dem Aufdruck 100 Pfund. Hannah blinzelte. In dieser Kiste lag ein Vermögen.
Aber du kannst dir keinen Weg aus diesem Keller dafür kaufen, dachte sie säuerlich.
Sie tastete sich zurück zu der Kiste und wühlte darin herum. Bitte, bitte, bitte, dachte sie, bitte lass irgendwas hier drin sein, das ich brauchen kann … Sie
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