Der Sog - Thriller
krumm wie ein zerbrochenes Ausrufezeichen vorgefunden hatte, den Kopf zu weit über den Badewannenrand zurückgebogen, die offenen Augen unfähig, den Staub fortzublinzeln, der sie bedeckte. Von dem Jungen mit dem Schraubenzieher und der Cordjacke. Über all die Geister, die sich lautlos verschworen, um ihn nach Hause zu schicken. Er erzählte ihr, dass es auch hier Geister gäbe, einschließlich des Selbstmords in dem gelben Anorak. Die Sonne war hinter die Hügel gesunken, und Lampen schimmerten orangefarben in den Häusern, an denen sie vorbeigingen. Ein leichter Duft nach gebratenem Fleisch und Zwiebeln würzte die Luft. Er schloss seine Erzählung damit, wie er vor zwei Tagen dem kleinen Thomas in den Wald hinterhergejagt war und ihn an derselben Stelle verloren hatte wie Tristram damals – vor den Flintenlauftunneln unter dem hohen, rostigen Wasserrohr.
» Diese Tunnel mit den vielen Spinnen?«, sagte Suzette.
Nicholas sah sie schockiert an.
» Was ist?«, fragte sie. » Glaubst du, ich bin nie da hineingegangen?«
Er schüttelte den Kopf.
» Umso dümmer von dir.«
Sie hielt vor einer Betonsteinmauer, auf der verblassende Graffiti » Freiheit für Ost-Papua« forderten und behaupteten: » Fellatio bringt’s nicht«. Sie stieß ihn an den Hinterkopf. » So. Dann wollen wir mal sehen.«
Sie stellte sich hinter ihn, hob sein Haar an und ertastete die Narbe auf seiner Kopfhaut. Er hatte sie logischerweise nie gesehen, aber er hatte sie gefühlt. Die Kante der Betonstufe vor der Wohnung in Ealing hatte eine unförmige Narbe von einer Daumenlänge Durchmesser hinterlas-
sen.
» Glaubst du, ich sehe deshalb Geister?«, fragte er. » Weil ich einen Schlag auf den Schädel bekommen habe?«
» Durch irgendetwas wurde es ausgelöst. Vielleicht war es der Schock über den Verlust von Cate. Vielleicht hat diese hässliche Beule das Rohr nur durchgepustet.« Sie klopfte ihm mit den Fingerknöcheln an den Kopf und grinste. » Wann ist mein Geburtstag?«
» Mein Gedächtnis funktioniert einwandfrei, Herrgott noch mal …«
» Wann?«
Nicholas verdrehte die Augen. » 31. Oktober. Du bist ein Halloween-Kind.«
Sie lächelte ihn dunkel an. » Ja und nein. Ja, das richtige Datum – dabei fällt mir ein, du schuldest mir noch ein Geschenk für letztes Jahr. Und nein – ich bin kein Halloween-Kind. Halloween verhält sich hier unten anders. All Hallows Eve – der Abend vor Allerheiligen. Die Kelten nannten es Samhain.« Sie sprach es sah-wen aus. » Für uns auf der südlichen Halbkugel ist das Ende des Oktobers Beltane, die Rückkehr des Sommers. Unser Halloween liegt sechs Monate entgegengesetzt.«
Sie beobachtete, wie Nicholas rasch im Kopf rechnete. » 30. April.«
Sie nickte.
» Mein Geburtstag«, sagte er leise.
Sie nickte wieder und stieß ihn mit der Schulter an.
» Du bist das Halloween-Kind. Und es heißt, ein Kind, das an Samhain geboren wird, hat das zweite Gesicht.«
Während sie weitergingen, fühlte Nicholas eine Leichtigkeit in seiner Brust. Was bedeutete das alles? Erzählte ihm seine Schwester nur, was er hören wollte? Dass sie beide die Gabe – oder den Fluch – besaßen, Tote zu sehen?
Oder sind visuelle Wahnvorstellungen in unsere fehlerhaften Gene eingewirkt?
Er fühlte Suzettes Augen auf seinem Gesicht, als spürte sie seine Zweifel.
» Du hattest früher schon Vorahnungen«, sagte sie. » Das weiß ich noch. Wie zum Beispiel einmal, als du sagtest, ich soll den Toaster nicht benutzen. Mum hat nicht auf dich gehört und ihn eingesteckt, und er hat Funken gesprüht und ihr einen Schlag verpasst. Du wusstest es einfach, oder?«
» Das hatte ich schon ganz vergessen.«
Sie prüfte ihn. Es war nicht das einzige Mal gewesen, dass er eine Ahnung gehabt hatte, ein Gefühl im Bauch, Schnipsel von Wissen über Dinge, Orte, Menschen, die er eigentlich nicht haben konnte.
Es stimmte, Nicholas hatte nie darüber nachgedacht. Während seines ganzen Lebens hatte er alle paar Wochen oder Monate das unerwünschte, unerklärliche Gefühl gehabt, dass etwas nicht stimmte oder dass jemand krank sei, dass dieses Ding kaputt war und jenes nicht verloren gegangen war, sondern in einem falsch beschrifteten Karton steckte.
Während eines Schulausflugs zur staatlichen Kunstgalerie in der neunten Klasse wollten er und vier Klassenkameraden gerade die Straße vor dem Gebäude zum gegenüberliegenden Gehsteig überqueren, als Nicholas das sehr starke Gefühl überkam, es sei keine gute Idee, auf der
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