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Der Sog - Thriller

Titel: Der Sog - Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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anderen Seite zu gehen. Er überredete seine Klassenkameraden zu bleiben, wo sie waren, indem er ihnen weismachte, er habe auf dieser Seite eine Milchbar gesehen, in die sie rasch schlüpfen und Zigaretten kaufen konnten. Keine Minute später raste auf der anderen Seite ein Taxi über den Randstein und kam mit berstender Windschutzscheibe an einem Strommasten zu stehen. Der Fahrer hatte eine leichte Herzattacke erlitten und die Herrschaft über den Wagen verloren. Hätten Nicholas und seine Mitschüler die Straße überquert, wären sie alle im Krankenhaus gelandet – auf der Unfallstation oder in einer Kühlschublade.
    Mit siebzehn hatte er bei seiner Führerscheinprüfung die Anweisung des Prüfers missachtet, rechts in eine Seitenstraße in Rosalie abzubiegen. Er war bei der Prüfung durchgefallen, hatte am Abend aber in den Nachrichten gesehen, dass ein nicht genehmigter Propangasbehälter in einem in Rosalie geparkten Wohnwagen explodiert war, den Wohnwagen vollkommen zerstört und Metallsplitter wie Schrapnell durch die Straße hatte fliegen lassen, in der glücklicherweise kein Verkehr herrschte – genau die Straße, in die zu fahren sich Nicholas geweigert hatte.
    Und er erinnerte sich an eine Nacht in London, als er schwer erkältet mit angezogenen Beinen auf der Couch gesessen war und die Einladung seines Mitbewohners Martin nur halb mitbekam, seinen » faulen weißen Arsch hochzukriegen« und auf eine Party in der Nähe der Portland Road mitzukommen. Nicholas fühlte sich hundeelend – er wusste nicht, ob mehr Schleim in seiner Lunge oder in seinem Magen war –, aber in dem Moment, in dem Farty Marty die Party erwähnte, wusste er, er musste hingehen. Schniefend wie ein Kokser, aber in seinen besten Klamotten, lernte er zwei Stunden später Cate kennen.
    Und natürlich hatte es seine Arbeit rund um London gegeben. Er schien immer zu wissen, in welchem Dorfhaus die alten Truhen und geschnitzten Buchstützen zu finden waren, auf die er Jagd machte.
    Ja, er hatte Ahnungen, Eingebungen und Bauchgefühle. Bis jetzt hatte er gedacht, alle hätten sie.
    » Was bedeutet es?«, fragte er.
    Suzette lächelte. Er konnte es in der Dämmerung kaum sehen. » Es bedeutet, dass ich dich nicht für verrückt halte.«
    Der Abendhimmel war grau wie Kanonenmetall. Schatten waren blau und ohne feste Form. Scheinwerfer waren Diamanten. Das Profil ihres Bruders bestand nur aus dunklen Winkeln. Schließlich sah er sie an.
    » Du bist Finanzberaterin, Suze. Wie kommt es, dass du über all dieses Zeug Bescheid weißt?«
    » Du siehst Tote. Wie kommt es, dass du nicht Bescheid weißt?«
    » Na ja, ich will ja immer bei der Hellseher-Hotline anrufen, aber irgendwie lande ich jedes Mal in einem Chat für lesbische Krankenschwestern …«
    » Musst du dich über alles lustig machen? Es ist bitterernst.«
    Über ihnen zog eine Schar Flughunde von ihren Zufluchtsorten in den Mangroven am Flussufer nach Westen, eine Armada schwarzer Keilschriftzeichen vor dem wolkenlosen Abendhimmel. Ihre Lederflügel schlugen gespenstisch lautlos. Die Luft war frisch, schwach gewürzt mit Autoabgasen und Kartoffelkraut.
    Suzette holte tief Luft. » Angefangen hat es natürlich mit Dads Büchern.«
    Nicholas sah sie an. » Welche Bücher?«
    Sie blinzelte überrascht. » Seine Bücher? In der Garage?«
    Er starrte sie weiter an. » In den Koffern?«, riet er schließlich.
    » In den Koffern, klar! Großer Gott. Sag bloß, du hast nie hineingeschaut.«
    Sie erinnerte sich, wie ihre Mutter sie oft geschickt hatte, dass sie Nicholas zum Abendessen holte. Dann fand sie ihn, einen dünnen Jungen mit einem strohblonden Haarschopf in der Mitte der winzigen, dunklen Garage stehen und starren. Sie wusste, er empfand den Tod ihres Vaters sehr viel schmerzlicher, als sie es tat. Manchmal hatte er zur Decke hinaufgeblickt: auf Brettern, die durch die Träger geschoben worden waren, lagen dort drei kleine Pappkartonkoffer gestapelt. Ihre Mutter hatte ihnen nie verboten, die Koffer anzurühren, sie hatte sie allerdings auch nicht dazu ermutigt. Sie waren einfach da, das einzige Andenken in der Lambeth Street 68 an einen Mann, an den sich Suzette nicht mehr erinnern konnte.
    Aber Nicholas erinnerte sich eindeutig.
    » Ich wollte sie nicht anrühren.« Er sprach langsam, vorsichtig. » Ich stellte mir vor, dass er sie dagelassen hatte, weil er zurückkommen würde. Und als er dann tot war, habe ich sie nicht angerührt, weil …« Er zuckte mit den Achseln. » Es

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