Der Sog - Thriller
werde ich es mit etwas viel Heimtückischerem als Perlen versuchen.«
» Ich freue mich schon darauf«, sagte er. » Tut mir leid wegen dieser Sache mit dem Zeichen. Ich dachte nur …«
» Komisches Zeichen«, sagte sie.
Diesmal war es an Nicholas, mit den Achseln zu zucken.
» Glauben Sie, es könnte chinesisch sein?«, fragte sie. » Ich habe gehört, sie hatten früher irgendwo hier in der Gegend Handelsgärtnereien. Vielleicht sollte es Glück bringen.«
» Ja, vielleicht.« Er streckte die Hand aus. » Ich bin Nicholas.«
Sie betrachtete die Hand, ergriff sie und schüttelte sie fest.
» Rowena.« Sie lächelte. » Schön, dass wir uns kennen gelernt haben.«
» Finde ich auch.«
Auf dem Heimweg ertappte er sich dabei, wie er an Rowenas Lächeln dachte und begrub die Erinnerung schuldbewusst.
Er leerte gerade den Briefkasten, als ein Mann durch ihn hindurchging. Nicholas fuhr zusammen, sein Herz hatte zu rasen begonnen.
Gavin Boye ging weiter zur Vordertreppe des Hauses, seine Waffe in dem schwarz glänzenden Müllsack. Er blieb stehen, dann klopfte er lautlos an die Tür. Niemand machte auf.
Nicholas spürte einen Knoten in der Magengrube. Das ähnelte zu sehr dem Jungen mit dem Schraubenzieher vor seiner Wohnung in Ealing. Und diese Erinnerung führte zu Cates Tod zurück.
Ich kann mir das nicht jeden Tag ansehen.
Er steckte die Post in den Briefkasten zurück, ging wieder auf den Gehweg hinaus und schloss das Gartentor hinter sich.
Es war kurz nach Mittag, als ein dauerlächelnder Immobilienmakler mit schütterem Haar Nicholas die Schlüssel zu einer möblierten Wohnung in der Bymar Street überreichte. Nicholas hatte den Mietvertrag unterschrieben, zwei Monate im Voraus bezahlt und das Telefon des Maklers benutzen dürfen, um Strom und Gas zu aktivieren.
Er trug die Schlüssel und seine Tüte mit Kräutertee die Betonstufen zu der im ersten Stock gelegenen Wohnung hinauf, schloss auf und trat ein. Das Mobiliar war billig und stark abgenutzt. Der Kühlschrank rasselte asthmatisch. Der Teppich roch schwach nach Cannabis und nassem Hund. Die weißen Vorhänge im Wohnzimmer hingen so schlaff herab wie bratfertig gemachtes Jagdgeflügel. Er zog einen zur Seite, angewidert von dem schmierigen Gefühl des Stoffs, und schaute auf die Straße hinunter.
Am Ende der Bymar Street lag die Carmichael Road und dahinter der dunkel lastende Wald.
In der heruntergekommenen Küche fand Nicholas einen Elektrokessel und kochte Wasser. Wie konnte der Wald immer noch hier sein? Wie hatte er den Bauboom der Fünfziger überlebt, den zügellosen Immobilienrausch der Siebziger, die Steuersparorgie, die 2003 ihren Höhepunkt erreichte?
Es war kein beliebter Park. Niemand ging in den Wald. Tatsächlich eilten alle Leute daran vorbei. Die Leute wussten, auch ohne hineinzugehen, dass es kein freundlicher Wald war.
Geh weg von hier, dachte er. Kauf dir ein Ticket nach Süden. Such dir einen Job in einem Designbüro, in einem hübschen neuen Gebäude, und leb in einer Neubauwohnung, wo es keine Geister gibt. So kannst du es aushalten. Hier hat sich nichts verändert.
Nein. Noch nicht. Erst würde er zu Gavin Boyes Begräbnis gehen. Er würde Gavins Witwe treffen und Mrs. Boye.
Warum?
Weil es sich so gehört.
Quatsch.
Gut, dann eben: Um zu sehen.
Was zu sehen?
Er wusste es nicht. Vielleicht … um nach weiteren Zeichen Ausschau zu halten.
Du wirst jede Menge Zeichen sehen. Zeichen, die dir sagen, du hättest nicht nach Hause kommen sollen. Geh einfach.
Er konnte das Gewicht des Walds fühlen, riesig und mit einer Anziehungskraft, wie sie der Mond auf die Gezeiten hat. Dort unten, in dem grünen, verschwiegenen Samt, wurde der kleine Thomas zwischen dunklen Stämmen hindurchgeschleift, sein Gesicht eine Maske des Schreckens, und seine letzten Stunden oder Minuten spielten sich endlos ein ums andere Mal ab.
Du kannst den Toten keinen Trost geben, sagte sich Nicholas. Warum lässt du sie nicht ruhen?
Weil ich der Einzige bin, der Bescheid weiß …
Ich reise nach der Beerdigung ab, feilschte er mit sich selbst.
Er machte den Kräutertee, der überraschend angenehm schmeckte. Er trank alles aus, rollte sich auf dem abgewetzten Stoffsofa ein und fiel in einen dunklen, leeren Schlaf.
10
Der Himmel schien vom selben Meeresgrau zu sein wie die nassen Schieferschindeln des steilen Kirchendachs, weshalb Nicholas kaum erkennen konnte, wo das Gotteshaus endete und der Himmel begann. Der grobe Stein am Sockel der
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