Der Sog - Thriller
fuhr sie fort. » Und er ist zu früh gegangen.«
Ihr Blick suchte und fand Nicholas und blieb auf ihm ruhen. Er enthielt keine Verwunderung mehr; sie hatte herausgefunden, wer er war. Er war nahe genug, um zu sehen, dass ihre Augen grau wie der düstere Tag draußen waren, und unnachgiebig wie Stein.
Laine Boye war auf dem Rückweg zu ihrem Platz, als ein Schrei die Stille durchbrach.
Mrs. Boye war aufgesprungen; sie riss sich den Hut vom Kopf und schleuderte ihn auf die geschnitzte Christusfigur. Ihr weißes Haar strahlte wie Blitze. Sie schrie wieder, ein wütendes Kreischen, und die Versammlung begann zu tuscheln.
» Blut ist das einzige Opfer, das den Herrn zufrieden stellt!«, schrie sie. Ihre Stimme hallte laut in den Querschiffen und hing unangenehm lange in der Luft.
Laine eilte an ihre Seite. Der Mann neben der sich wehrenden alten Frau hielt ihren Arm entschlossen fest. Mit gedämpften Stimmen versuchten sie Mrs. Boye zu beruhigen. Laines flatternde Hände griffen nach ihren. Doch Mrs. Boye schüttelte sie ab. Ihr Haar war wild zerzaust. » Blut allein stellt den Herrn zufrieden!« Sie spie das Wort heraus wie einen Fluch.
Reverend Hird nickte seinem Untergebenen zu, der zu Mrs. Boye eilte. Schnell wie eine Schlange schlug die alte Frau dem jungen Reverend hart ins Gesicht.
» Menschenfischer!«, schrie sie. » Was tun Fischer mit den Fischen? Sie ziehen sie aus dem Wasser, lassen sie ersticken und nehmen sie aus! Essen sie! Oder werfen sie tot und leer zurück. Menschenfischer!« Diesmal spuckte sie tatsächlich, einen Mund voll schaumigen Speichel, der in hohem Bogen auf das Schienbein der Christusstatue fiel.
Nicholas sah wie benommen zu. Die alte Frau hatte genau das gesagt und getan, was er am liebsten bei Cates Begräbnis getan hätte.
Starke Hände hielten Mrs. Boye fest. Sie wehrte sich noch eine Weile, dann sank sie in sich zusammen. Hird nickte dem Organisten zu, der eine lebhafte Fassung von » To Jesus’ Heart all Burning« anstimmte.
Und so endete die Trauerfeier vorzeitig.
Nicholas stand mit eingezogenem Kopf unter dem Regenschirm, als die Träger den Sarg in den Leichenwagen luden. Suzette und Katharine stellten sich neben ihn. Der Regen fiel kalt und gleichmäßig.
» Nette Messe, fand ich«, sagte Nicholas. » So lebendig.« Sein Schädel pochte. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt gegessen hatte.
» Du hättest anrufen können«, sagte Katharine. » Deine Schwester und ich waren krank vor Sorge.«
Suzette boxte ihn einfach kräftig auf den Arm. » Blödmann.« Sie beugte sich näher zu ihm und flüsterte rau. » Ich muss mit dir reden.«
» Okay. Jetzt oder was?«
Suzette lächelte affektiert. » Nein.« Natürlich nicht; nicht vor ihrer Mutter.
» Später dann?«, schlug Nicholas vor.
Die Kirche stand an einer Straßenecke, und von dort sprang Nicholas Bewegung ins Auge. Laine und der Mann, der vermutlich Gavins Cousin war, wie Nicholas inzwischen annahm, dirigierten Mrs. Boye in eine dunkle Limousine. Die alte Frau war gebeugt und friedfertig, als hätte der Ausbruch in der Kirche nie stattgefunden. Ehe sie ihrer Schwiegermutter in den Wagen folgte, zögerte Laine, richtete sich auf und sah sich um. Ihr Blick fiel auf Nicholas. Sie sagte etwas zu dem Fahrer, dann kam sie und baute sich direkt vor Nicholas auf. Sie sahen sich einen Moment lang an. Dann drehte sich Laine überlegt wie ein Schachlehrer zu Katharine und streckte die behandschuhte Hand aus.
» Laine Boye. Danke, dass Sie gekommen sind.«
Katharine nahm die Hand. » Katharine Close. Ihr Verlust tut mir aufrichtig leid. Das sind meine Tochter Suzette und mein Sohn Nicholas.«
Laine richtete den ruhigen Blick ihrer grauen Augen wieder auf Nicholas. » Würden Sie uns wohl freundlicherweise entschuldigen, Mrs. Close? Suzette?«
Nicholas lächelte Suzette zu. » Wir plaudern bald?«
» Wir sehen dich heute Nachmittag zu Hause.« Suzette fasste Katharine am Arm, und die beiden entfernten sich.
Nachdem die beiden fort waren, schien die Luft zwischen Nicholas und Laine abzukühlen. Nicholas blickte unwillkürlich wieder in ihre grauen Augen. Dunkle Schatten in den Augenwinkeln verrieten die Belastung, der sie seit Gavins Tod ausgesetzt gewesen war. Ihr Gesicht war jedoch vollkommen ausdruckslos, als sie Nicholas durchdringend ansah. Als sie sprach, war ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
» Was ist passiert?«
Unter ihren feinen Zügen lauerte etwas. Nicht Wut. Nicht Abscheu. Aber was?
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