Der Sog - Thriller
seinen Tee und blickte in einer Weise über den Rand der Tasse, die Nicholas an seine Mutter erinnerte. » Aber wenn Sie weitergehen, finden Sie ähnliche Darstellungen dieses Gesichts – halb Mensch, halb Baum – in Nepal, Indien, Borneo.«
» Er ist nicht christlich?«
Anand lachte. » Ganz und gar nicht. Seine Ursprünge liegen weit vor Christi Geburt. Er ist ein heidnisches Idol.« Er lächelte mit kaum verhüllter Freude.
» Ich habe ihn schon einmal gesehen«, sagte Nicholas.
Anand nickte, sprach aber eine Zeitlang nicht.
» Es ist ein beunruhigend vertrautes Gesicht.« Er ließ den Blick nun ebenfalls hinauf zu der Deckenschnitzerei wandern und dann wieder hinunter zu dem gekreuzigten Christus. » Der zeitlose Mann, der jedes Jahr stirbt und neu geboren wird. Der den Triumph über Winter und Tod symbolisiert.«
» Welcher? Jesus oder der Grüne Mann.«
» Eben«, erwiderte Anand. Er wandte den Kopf zu Nicholas, ein leichtes Stirnrunzeln auf der glatten Stirn. » Ein Mann tötet sich vor Ihren Augen, Mr. Close. Vielleicht hat er Sie ebenfalls zu töten versucht.« Er zuckte mit den Achseln, als wollte er sagen: Geht mich nichts an. » Aber wie fühlen Sie sich?«
Der plötzliche Strategiewechsel erwischte Nicholas kalt.
» Ich habe beschissene Kopfschmerzen«, sagte er, ehe er überhaupt zum Nachdenken kam. » Vielleicht nicht so schlimme wie Gavin, aber trotzdem …«
Der junge Reverend nickte, sagte jedoch nichts. Die Männer tranken eine Weile schweigend ihren Tee.
» Wo ist dieser faule schwarze Hurensohn?«, rief eine ältere Stimme. Reverend Hird kam in die Kirche gehastet. » Da!«, dröhnte er anklagend. » Er faulenzt schon wieder!« Er sah Nicholas an wie einen weiteren Augenzeugen einer himmelschreienden Ungerechtigkeit.
» Wann sterben Sie endlich?«, fragte Anand freundlich.
» Niemals! Und wenn ich es tue, werde ich Sie sowieso aus dem Grab verfolgen«, erwiderte Reverend Hird. Er sah Nicholas an. » Sind Sie der Bursche, vor dessen Augen sich Boye erschossen hat?«
» Ja.«
» Schlimme Sache.« Hird machte seinem jüngeren Kollegen Zeichen mitzukommen. » Wir haben eine Abendmesse vorzubereiten, Sie fauler, nichtsnutzer Wilder.« Der alte Mann wechselte ins Pfarrhaus hinüber.
Anand lächelte Nicholas an. » Reverend John Hird. Er war in Korea. Seine Herangehensweise an den Tod ist eher unsentimental.« Er stand auf und streckte Nicholas die Hand entgegen. Sie schüttelten sich die Hände.
» Komische Sache, das Christentum.«
» Ein christlicher Pastor aus Indien ist sicherlich ungewöhnlich«, sagte Nicholas.
» Reverend«, verbesserte Anand. » Wenn wir uns das nächste Mal treffen, nennen Sie mich Pritam.« Er lächelte und folgte seinem Vorgesetztem, nicht ohne noch einmal über die Schulter zu rufen: » Und Indien hat weit über zwanzig Millionen Christen. Mehr als die gesamte Bevölkerung dieses Landes.« Er lächelte wieder und schloss die Durchgangstür zum Pfarrhaus hinter sich.
Nicholas saß allein unter den geschnitzten Augen von Christus und dem Grünen Mann.
Blut ist das einzige Opfer, das den Herrn zufrieden stellt.
Ihre steinernen Blicke machten ihn nervös.
Er stand auf und verließ rasch die Kirche.
11
Nicholas betrat das Haus durch die Hintertür, ein Sträußchen aus dem Supermarkt in der Hand. Suzette sah, wie er die Blumen Katharine gab und ihr erzählte, er sei in eine Wohnung gezogen. Katharine nickte, legte die Blumen in die Spüle, ging in ihr Schlafzimmer und zog die Tür hinter sich zu.
Nicholas sah Suzette an. » Ich weiß, es sind billige Blumen, aber ehrlich gesagt …«
Suzette sah ihren Bruder aus schmalen Augen an. Katharine war wütend auf Nicholas, und Suzette konnte es ihr nicht verübeln. Die beiden Frauen hatten am Tag zuvor nach dem Abendessen stundenlang diskutiert, ob sie die Polizei anrufen und Nicholas als vermisst melden sollten. Suzette hatte sich mit dem Argument durchgesetzt, in der Lambeth Street 68 sei in der letzten Woche schon genügend Polizei aufgekreuzt und Nicholas sei wahrscheinlich unterwegs, einen draufmachen, was ihm vielleicht ganz gut tue. Aber sie wäre nie auf die Idee gekommen, dass er losziehen und sich eine Wohnung suchen würde, ohne jemandem etwas zu sagen.
Nicholas erklärte, wie er Gavins Geist jedes Mal beim Öffnen der Tür Selbstmord begehen sah, und Suzettes Zorn ebbte ein wenig ab.
» Ich weiß, du hättest es Mum nicht sagen können. Aber mir hättest du es sagen können.«
» Ich erzähle
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