Der Sog - Thriller
stehen.
Durch einen schmalen Spalt zwischen den Bäumen war unterhalb von ihm ein Weg zu sehen.
Er kletterte vorsichtig zu ihm hinunter, indem er dorniges Gestrüpp beiseiteschob und zwischen eng stehenden Stämmen durchkroch. Am Ende seiner Anstrengungen glitt er auf einen schmalen, steinigen Pfad, der sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelte. Nach links schien der Weg leicht anzusteigen, nach rechts schien er leicht abzufallen. Welche Richtung sollte er einschlagen? Jede Orientierung war ihm längst abhandengekommen, und ohne einen Blick auf die Sonne konnte er noch nicht einmal Nord und Süd unterscheiden. Er überlegte noch, als ihm etwas Rotes ins Auge sprang.
Kaum sichtbar hinter einer Baumwurzel, stand ein kleiner Fleck Erdbeeren am Wegrand. Zwischen den gezackten Blättern der Pflanzen saßen Früchte nicht größer als Nicholas’ Daumennagel. Sein Magen schien zu spüren, dass Nahrung nicht weit war und knurrte. Er zwickte eine der Beeren ab – sie war fest, ließ sich aber mühelos abnehmen und war reif. Man muss Gott für alles danken, dachte er und steckte sie in den Mund. Sie schmeckte wunderbar süß. Er kniete nieder, pflückte und aß und hörte erst auf, als ihm einfiel, wie er in der St. James Street in London einmal eine große Schale Erdbeeren gegessen hatte, während er auf Cate wartete, die ein Vorstellungsgespräch hatte; der Durchfall, der sich eine Stunde später einstellte, hatten ihm den Mangel an öffentlichen Toiletten in der Londoner City deutlich und schmerzhaft in Erinnerung gerufen.
Aufgemuntert dadurch, dass er etwas im Magen hatte, betrachtete Nicholas den Weg wieder. Dort wo er abwärtsführte, schienen ihm die Bäume weniger dicht gedrängt und düster zu sein, also schlug er diese Richtung ein.
Ein leiser Gedanke nagte an ihm: Wieso ist hier überhaupt ein Weg?
Egal, sagte er sich. Ich werde es früh genug herausfinden.
Und warum hast du keine toten Kinder gesehen? Offenbar war er im falschen Teil des Walds. Mal sehen, wohin dieser Weg führt, und wenn er nirgendwohin führt, kann ich ihn bei meiner nächsten Suche außer Acht lassen. Das erschien ihm absolut vernünftig. Er würde diesem Weg bis zu seinem Ende folgen und dann zurückgehen. Ja, aber warum ist hier ein Weg?
Nicholas begann sich allmählich über die widersprechende Stimme in seinem Kopf zu ärgern. Tiere, vielleicht. Eine Ziege oder so etwas – wen kümmert es? So leicht wie hier war er den ganzen Morgen nicht vorangekommen. Er wurde nicht zerkratzt beim Gehen, eine leichte Brise war spürbar und durch das Blätterdach blinzelte ab und an die Sonne durch. Der Wald links und rechts war eigentlich ganz hübsch. Geweihfarne wuchsen aus manchen Stämmen, ihre grünen Wedel hingen freundlich herab wie Flaggen in Friedenszeiten. Die Luft war frisch und roch rein und lebhaft. Er war, stellte er fest, guter Laune. Unabhängig von dieser Jagd nach … was immer, musste er sich unbedingt vornehmen, wieder einmal zu diesem hübschen kleinen Pfad zurückzukehren.
Der Weg machte eine Biegung, als er erst einen breiten, freundlichen Feigenstamm und dann einen zweiten umkurvte, ehe er wieder geradeaus verlief.
Als Nicholas um den zweiten Baum herumgegangen war, blieb er verblüfft stehen.
Der Weg lief geradeaus weiter und wurde geringfügig breiter. Der Wald wich zu beiden Seiten zurück und schuf Raum für eine Lichtung. Ihr sanft gewellter Grund war ein einziger Teppich aus niedrigen Farnen und Hibbertia. Ein schnell fließender Bach plätscherte über glänzende Felsen, ehe sich sein klares Wasser in einen breiten Teich vom Durchmesser eines Steinwurfs ergoss. Darüber leuchtete ein nahezu perfekt rundes Stück blauer Himmel.
Doch was Nicholas erstaunt blinzeln ließ, war das Boot.
An einer Seite des Teichs lag eine hölzerne Schaluppe vertäut. Es war, dachte Nicholas, das hübscheste Schiff, das er je gesehen hatte. Es hatte weiße, polierte Balken, ein frisch blaues Sonnendach und eine Reling aus gewachstem Hartholz. Die Bauart war alt, aus dem vorletzten Jahrhundert, aber die Proportionen waren klar und lebhaft, und es lag sehr hübsch parallel zum Ufer. Durch das Sonnenlicht, das von den gläsernen Bullaugen der Steuerkabine reflektiert wurde, schien es strahlend zu lächeln.
Nicholas strahlte erfreut zurück.
Aber wieso ist hier ein Boot?
» Psst«, befahl er sich erneut zu schweigen. Er verließ den Weg, ging über die weiche und duftende grüne Decke zum Ufer und fuhr mit der Hand über den
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