Der Sog - Thriller
dem Haus. Aus der Wohnung zwei Türen weiter kam das dummdreiste Geplapper einer Mittagstalkshow. Nicholas war nicht zu Hause.
Suzette atmete langsam aus und setzte sich auf die Betonstufen. Von hier konnte sie die eintönige Plattenseite des Gebäudes sehen: helle Ziegel und heller Mörtel, nur aufgelockert durch die Metallschilder mit den Hausnummern; die Schilder zeigten das Motiv eines Mexikaners mit Sombrero, der unter einer Palme schläft.
Der Zorn, der den ganzen Morgen wie Lava aus ihr geflossen war, war nun endlich verbraucht, und sie war müde. Nicholas hatte sie gestern Nachmittag vor den Kopf gestoßen; dass er die Rune an Quills alter Tür als bedeutungslosen Zufall abgetan hatte, hatte sie für einen Moment ratlos gemacht. Bis sie ihre Gedanken geordnet hatte, war er aus dem Haus und fort gewesen, und ihre Verwirrung hatte sich langsam zu heißer Wut gesteigert. Es war so typisch für Nicholas, einem Geschenk des Wissens den Rücken zu kehren und zu gehen. Das hatte er getan, so weit sie zurückdenken konnte, und es machte sie krank vor Zorn. Alles fiel ihm so mühelos zu: Er hatte nie gelernt und war problemlos durch die Schule gekommen, während sie selbst mit mönchischer Hingabe hatte büffeln müssen; er griff einfach zum Bleistift und zeichnete mit leichter Hand, während ihre wenigen, heimlichen Versuche, ein Gesicht oder eine Vase zu skizzieren, zu monströsen Ergebnissen geführt hatten, die es rasch zu beseitigen galt; er war mit der Gabe des zweiten Gesichts zur Welt gekommen, etwas, worüber sie in Tausenden von Stunden ihrer freien Zeit gelesen und woran sie mit Kräutern, Zaubermitteln und Zeichen von Erde und Wasser gearbeitet hatte … und jetzt, da sich eine Wahrheit auftat, ließ er sie einfach links liegen und erwartete von ihr, dasselbe zu tun, einfach ihre Sachen zu packen und nach Hause zu fliegen. Sie war so wütend, so voll blindem Zorn auf ihn gewesen, dass sie tatsächlich gepackt hatte, an Katharine vorbei war sie vom Schlafzimmer zum Bad gestampft und dann zum Telefon, um sich nach dem nächsten Flug nach Sydney zu erkundigen …
Aber sie war nicht geflogen.
Ihr Gewissen ließ sie nicht gehen. Die Rune an der Tür des Gesundheitskostladens war genau das, was sie Nicholas erzählt hatte: eine Blutrune, eine gefährliche Rune. Sicher, vielleicht war es Zufall, dass sie sie an der Tür einer alten Frau gefunden hatten, die ihr früher unheimlich gewesen war, aber Suzette glaubte, je älter sie wurde, immer weniger an Zufälle. War es Zufall, dass zwei fast gleichaltrige Jungen aus derselben Stadt im Abstand von einem Vierteljahrhundert von verschiedenen Männern auf die gleiche Weise ermordet wurden? Sie glaubte es nicht. Quill war sicherlich längst unter der Erde, aber eine Rune starb nicht, und Suzette war überzeugt, sie hatte etwas mit dem Tod von Tristram und dem kleinen Thomas zu tun. Der Umstand, dass Nicholas nicht zu Hause auf dem Sofa herumlümmelte, führte sie zu der Annahme, dass er es ebenfalls glaubte. Was verbarg er vor ihr?
Sie stand auf, schrieb eine knapp formulierte Nachricht und schob sie unter seiner Tür hindurch.
Es dauerte rund zehn Minuten, bis sie in der Myrtle Street mit ihren Läden unter den schweren Lidern war. Selbst bei Tageslicht ließ ihr Anblick Suzettes Herz stolpern und ihre Füße kribbeln, bereit wegzurennen. Doch sie war kein Kind mehr; sie hatte Kenntnis von vielen Dingen. Sie stieg die Treppe zu der gefliesten Veranda vor der Front der Läden hinauf und ging entschlossen zur Tür von Plough and Vine Health Foods.
Ein handgeschriebenes Schild in der Glastür verkündete: » Wegen Inventur geschlossen«. Das O in » geschlossen« war ein Smiley mit Blütenblättern darum. Im Laden war es dunkel.
Suzette spähte in das Dunkel und erwartete, jeden Moment Bewegung zu sehen, eine alte, gebeugte Frau zwischen aufgehängten Sachen hervorlugen zu sehen … doch in dem Laden rührte sich nichts.
Ihr Blick ging zum Türrahmen. Die glänzende weiße Farbe reflektierte den Tag außerhalb der Markise und ihr eigenes Gesicht. Sie fuhr mit den Fingern über die seidige Oberfläche … und spürte die unsichtbaren Rillen. Sie war da. Ihre Fingerspitzen kribbelten. Blutrune. Kriegsrune.
Sie zog ihre Hand fort.
Wenn sie es fühlte, musste es Nicholas ebenfalls fühlen. Was wusste er sonst noch?
Kelmscott Heights hatte ein kleines Zufahrtstor, flankiert von zwei dicht mit Efeu bewachsenen, dunklen Ziegelpfeilern. Die Zufahrt selbst war
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