Der Sohn der Halblinge: Roman (German Edition)
genug fürchtet, um mich verfolgen zu lassen.«
» Und was tun wir jetzt?«, kam Borro zur Ausgangsfrage zurück.
» Wir werden gar nichts tun«, sagte Lirandil, und zwar in einem Tonfall, als wäre die Entscheidung längst gefällt und als gäbe es keine Alternative dazu.
Borro warf Arvan einen Blick zu, doch den beschäftigte der Tod des Waldriesen Tarruu noch immer so sehr, dass er seine Gefährten kaum beachtete. Neldo zuckte mit den Schultern, als Borro ihn ansah, und Zalea wich seinem Blick aus. Was sollte man auch gegen die Worte des so unglaublich gebildeten und weit gereisten Lirandil vorbringen? Mochte der auch nach den Maßstäben der Elben noch jung sein, so verfügte er doch über einen Schatz an Erfahrungen und Wissen, der den meisten anderen Geschöpfen schon aufgrund ihrer kürzeren Lebensspanne verwehrt blieb.
» Wir werden nichts tun und abwarten«, wiederholte Lirandil, der wohl spürte, welche Irritationen seine Worte nicht nur bei Borro ausgelöst hatten. » Die Luftgeister wollen uns prüfen. Sie werden unsere Gedanken lesen– das heißt, vorwiegend meine Gedanken, denn die euren werden ihnen nur als flüchtige Geistesblitze erscheinen, mit denen die Beschäftigung nicht lohnt.«
» Und was soll diese Prüfung ergeben?«, fragte Borro.
» Die Luftgeister wollen in Erfahrung bringen, ob ich ihren Interessen von Nutzen sein kann. Sie haben uns gerettet, weil sie bereits einmal zu dem Schluss gelangt sind, dass meine Mission auch in ihrem Sinn sein könnte.«
» Also besteht Hoffnung, dass sie uns noch einmal helfen?«, fragte Neldo hoffnungsvoll.
Lirandil zuckte mit den Schultern. » Zweifellos stehen die Luftgeister und wir in diesem Konflikt auf derselben Seite. Aber es könnte sein, dass die Mehrheit von ihnen zu dem Schluss gelangt, dass ein Bündnis aus überwiegend Kurzlebigen kaum einen Beitrag dazu leisten kann, Ghools Einfluss zurückzudrängen.«
Nach Lirandils Worten herrschte eine ganze Weile lang Schweigen. Arvan dachte immer wieder daran, welches Bild des Grauens sie in der Wurzelhöhle von Zobo dem Bedachtsamen vorgefunden hatten und auf welch schreckliche Weise der Waldriese Tarruu gestorben war. Der tiefe Grimm gegen die Orks, der ihn bereits in der Wurzelhöhle überkommen und wie blindwütig auf den zurückgelassenen verletzten Ork hatte einschlagen lassen, stieg wieder in ihm auf. Wie ein fernes Echo hallten dazu Lirandils Worte in seinem Kopf wider, sich nicht von seinen Gefühlen übermannen und leiten zu lassen. Doch diese Ermahnungen konnten die Welle aus purem Hass, die seine Seele überflutete, nicht aufhalten.
Eine Bewegung im Nebel riss Arvan aus seinen finsteren Gedanken. In den wabernden Schwaden bildeten sich durchscheinende, schwerelos über dem Wasser schwebende Gestalten. Mehr als vage Umrisse waren von ihnen nicht zu erkennen. Sie waren lang gestreckt, wirkten, als trügen sie fließende Gewänder, und ihre Köpfe waren graue Ovale, die im Verhältnis zu ihren Körpern viel zu groß waren.
Augen leuchteten in dem dunklen Grau, das einzige Merkmal, das bei den unheimlichen Gestalten deutlich hervortrat, alles andere blieb verschwommen. Stimmen murmelten in einer unbekannten Sprache.
» Bei den Namenlosen Elbengöttern«, sagte Lirandil, » das müssen sie sein.«
» Wenn Ihr Euch schon nicht sicher seid…«, murmelte Borro.
» Es ist unsagbar lange her, dass sich die Luftgeister zuletzt jemandem gezeigt haben«, entgegnete Lirandil. » Und sie tun es gewiss nicht ohne wichtigen Grund.«
» Und was könnte dieser Grund sein?«, fragte Arvan.
Lirandil kam nicht mehr dazu, Arvan eine Antwort zu geben, denn eine dieser schwebenden, durchscheinenden Gestalten streckte den Arm aus und richtete ihn auf den Elb. Ein Strahl aus grellweißem Licht schoss aus der vierfingrigen Hand hervor, traf Lirandil, erfasste seinen Körper und ließ den Leib des Fährtensuchers grell aufleuchten.
Das Boot schwankte, weshalb Arvan unwillkürlich beide Arme ausstreckte, um die Balance zu halten. Dabei kam er dem Wirkungsbereich der magischen Kraft offenbar zu nahe, denn ein Lichtbogen sprang auf ihn über, und Arvan wurde im hohen Bogen aus dem Boot geschleudert. Er landete im Wasser, strampelte mit den Beinen und ruderte verzweifelt mit den Armen. Er hatte das Schwimmen nie gelernt, denn diese Kunst war unter Halblingen kaum verbreitet. Sogar Brado der Flüchter, der doch immerhin den großen Ozean im Osten überquert hatte, war der Überlieferung nach des Schwimmens
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