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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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dieselben. Niamh fehlte uns allen, aber niemand sprach davon. Was geschehen war, war geschehen; man konnte die Vergangenheit nicht umschreiben. Was mich anging, kam es mir so vor, als wären sie alle irgendwie einen Schritt von mir entfernt. Sie misstrauten meinem Schweigen, meinem Bedürfnis, mit meinen Gedanken allein zu sein. Mit Mutter war es anders. Sie hatte ihre eigene Vorstellung der Wahrheit, und sie hielt Liam davon ab, mich weiter auszufragen.
    An einem Abend, nicht lange nach Lugnasad, in der Kälte des Jahreszeitenwechsels, kam ein Bote aus Tirconnell mit willkommenen Nachrichten. Es sollte eine Versammlung im Süden geben; die Häuptlinge vieler Clans waren vom Hochkönig nach Tara gerufen worden, und Fionn würde als Vertreter seines Vaters dort hingehen. Die beiden Fraktionen der Uí Néill liebten einander vielleicht nicht, aber es wäre mehr als dumm, eine solche Einladung abzulehnen. Häufig genug war im Lauf von Generationen der Titel des Ard Ri oder Hochkönigs von einem Zweig dieser großen Familie an den anderen weitergegeben worden und wieder zurück. Auch Liam sollte an diesem Treffen teilnehmen.
    Und die beste Nachricht war, dass Fionn seine Frau mitbringen würde, zumindest bis nach Sevenwaters, und ich daher meine Schwester wieder sehen würde.
    Laken wurden gelüftet und Fußböden gefegt, Vorbereitungen in Küche und Stall für eine ganze Horde von Besuchern getroffen. Ich hatte vor, mich nützlich zu machen und Janis und ihren Frauen beim Salzen und Brauen zu helfen. Aber der intensive Geruch des Biers drehte mir immer wieder den Magen um, und ich musste mich rasch zurückziehen und nach draußen gehen, um unter einem Ebereschenbusch mein Frühstück wieder hervorzuwürgen. Wahrscheinlich hatte ich zu viel gegessen. Ich schien dieser Tage beinahe ununterbrochen Hunger zu haben. Später ging es mir wieder gut, und ich tat meinen Zustand als unwichtig ab. Aber als es am nächsten Tag und am übernächsten wieder geschah, hielt ich mich morgens aus der Küche fern und beschränkte mich darauf, meine Kräuter zu ernten und zu trocknen, Samen zu trocknen und die Beete zu jäten. Ich arbeitete sehr hart. Ich hatte immer zu tun. Ich gestattete mir nicht nachzudenken.
    Neumond kam und ging und kam abermals. In diesen Nächten schlief ich nicht. Stattdessen saß ich am Fenster, wo die Kerze brannte, und ich dachte an dieses kleine Kind, das seine Hand im Dunkeln zu mir ausgestreckt hatte – im Alptraum. Lass nicht los. Im Geist nahm ich dieses Kind, das auch ein Mann war, und schlang meine Arme um ihn und hielt ihn dicht an meinem Herzen, bis die Morgendämmerung den Himmel berührte. Und obwohl ich nie laut sprach, versuchte ich doch, meine Stimme durch die Schatten dringen zu lassen, die ihn umkreisten. Ich bin hier. Du bist jetzt in Sicherheit. Ich passe auf dich auf. Ich lasse dich nicht gehen. Danach kam immer ein neuer Morgen. Die Sonne ging auf, und es war ein neuer Tag. Ich sagte ihm das, und wenn es hell genug war, dass er seinen Weg finden konnte, blies ich die Kerze aus, berührte die Rabenfeder sanft mit den Fingerspitzen und ging gähnend nach draußen, um mit der Tagesarbeit zu beginnen.
    Es war ein gutes Erntejahr. Iubdan war überall zu sehen und durch seine Größe und sein helles Haar leicht unter den anderen Männern des Haushalts zu erkennen, wenn er das Einbringen der Ernte, die Viehauswahl, das Schlachten von Schafen zum Salzen und Trocknen des Fleischs und das Flicken von Dächern und Mauern, um Hüttenbewohner und Herdentier vor dem gierigen Griff des Winters zu schützen, überwachte. Sean war häufig an seiner Seite, eine zierlichere Gestalt, sein Haar so dunkel und wild wie das unserer Mutter. Es war keine Aisling da, um ihn abzulenken, denn ihre eigene Ernte hielt sie und ihren Bruder fern von Sevenwaters, und ich war froh darüber. Liam bereitete sich auf seine Reise nach Süden vor, schickte viele Botschaften aus und empfing noch mehr, plante und besprach sich mit seinen Hauptleuten, aber obwohl Sean an diesen Besprechungen immer teilnahm, würde er nicht zur Versammlung reisen, die der Hochkönig einberufen hatte. Liam, stets der Stratege, ließ sich Zeit, bevor er seinen Neffen zu offensichtlich diesem einflussreichen und gefährlichen Kreis aussetzte. Er war der Ansicht, dass mein Bruder immer noch zu jung sei, um die komplizierten Machtspiele zu beherrschen. Irgendwann einmal würde Sean Herr von Sevenwaters sein. Er musste lernen, seinen Nachbarn immer einen

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