Der Sohn der Schatten
Schritt voraus zu sein, denn ein Nachbar konnte sich in einem einzigen Augenblick vom Verbündeten in einen Feind verwandeln. Liam unterrichtete meinen Bruder gut und ließ ihm Zeit, die Überstürztheit der Jugend abzulegen und sich als wahrer Anführer zu erweisen.
Es tat mir gut, dass der Haushalt so beschäftigt war, denn Ernte und Sammeln lenkte die Menschen von mir ab. Niamh und ihr Mann würden zu Meán Fómhair eintreffen, wenn Nacht und Tag gleich lang waren und wir an der Schwelle der Dunkelheit standen. Hinter dieser Tür steht die Hüterin von Geburten und Toden. Sie mag eine alte Frau sein, aber mit großem Alter kommt auch ungeheure Weisheit. Und an jenem Tag der Jahreszeitenwende können solche, die den Mut finden, ihren Geist ihre Stimme zu öffnen, ihren Rat suchen. Und oh, ich brauchte tatsächlich Weisheit und Rat, und das bald. Aber nicht vom Feenvolk. Ich wusste, was sie sagen würden, und bekam eine Ahnung davon, was vielleicht dahinter stand. Ich begann mich wie in einer Falle zu fühlen, und das gefiel mir überhaupt nicht.
Ich schnitt ein Stück von Brans Umhang ab, so dass ich ihn draußen tragen konnte, ohne zu viel Schlamm abzubekommen. Nachdem ich den Stoffstreifen gesäubert hatte, schnitt ich ihn in ordentliche Quadrate und verstaute sie in der kleinen Eichentruhe neben meinem Bett. Ich hatte auch ein paar andere Stücke bereit. Reste eines alten Hemdes meines Vaters, die vom langen Tragen weich geworden waren. Ein hübscher rosafarbener Wollstoff von einem von Niamhs Gewändern. Ich hatte die Farbe dafür selbst angesetzt, vor langer Zeit. Sie hatte es gern getragen, bis ein anderes ihr Lieblingskleid wurde. Dann gab es noch Stücke eines praktischen Arbeitskleides und einen Teil meines verdorbenen Reitkleides. Letzteren hatte ich aus dem Rücken geschnitten, denn als ich es ansah, bemerkte ich, dass nur noch der Rücken zu retten war, so fleckig war das Kleid von Blut und Erbrochenem und anderen undenkbaren Dingen. Nachdem ich meine kleinen Flicken geschnitten hatte, verbrannte ich den Rest. Ich vergoss keine Tränen darum. Ich versuchte, nicht daran zu denken. Stattdessen arbeitete ich. Mein kleiner Arbeitsraum war wahrscheinlich nie so gut gefüllt mit Kräutern gewesen, der Garten selten so ordentlich, nicht ein einziger Schössling aus der Reihe, nicht ein einziges unwillkommenes Unkraut in Sicht. Und dann war beinahe wieder Neumond, und meine Mutter kam eines Tages herein, als ich Hagebutten zum Trocknen auf einen Faden zog, und bemerkte, dass ich leise eine Melodie aus dem alten, alten Wiegenlied vor mich hin summte.
»Hör nicht auf«, sagte Sorcha und setzte sich aufs Fensterbrett, ein zierlicher Schatten mit großen Augen, wie sie die kleinsten, zartesten, weißen Eulen haben. »Ich höre dich gern singen. Dann weiß ich, dass es dir trotz allem gut geht. Eine unglückliche Frau singt nicht.«
Ich warf ihr einen Blick zu und wandte mich wieder meinen Hagebutten zu. Sie hingen am Faden wie hellrote Blutstropfen. Wo war er? In welchem weit entfernten Land setzte er jetzt sein Leben aufs Spiel für das Silber irgendeines Fremden? Unter welchem exotischen Baum, in welch seltsamer Gesellschaft lag er nachts wach, die Waffe in der Hand, und wartete schweigend auf den Morgen?
»Liadan.«
Ich wandte mich ihr zu.
»Setz dich, Liadan. Ich habe dir etwas mitgebracht.«
Erstaunt tat ich, was sie mir sagte. Sie schüttelte das Stoffbündel aus, das sie in der Hand hielt.
»Du kennst dieses Kleid selbstverständlich. Es ist sehr alt. Inzwischen zu alt, als dass ich es noch tragen könnte.« Sie fuhr mit der Hand über den verblichenen blauen Stoff; ihre schlanken Finger berührten die alte Stickerei, die nun beinahe nicht mehr zu sehen war. »Ich dachte, du könntest vielleicht hier und hier noch ein Stück herausschneiden. Du wirst die Ränder sehr gut säumen müssen. Aber du kannst gut mit der Nadel umgehen. Es gab einen Tag, als das Meer und der Sand diesen Rock berührten, einen Tag, wie man ihn nur einmal im Leben erlebt … und ich habe es noch einmal an einem Tag von Feuer und Blut getragen. Ich brauche das Kleid nicht mehr, um mich daran zu erinnern; beide Tage sind in meinem Herzen tief eingeprägt. Was immer es ist, das du für dein Kind herstellen willst – dieser Stoff muss ein Teil davon sein.«
Wir schwiegen beide lange, und schließlich stand ich auf und kochte einen Topf Pfefferminztee und goss ihn in zwei Becher. Ich stellte einen davon auf die Fensterbank zu
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