Der Sohn der Schatten
Bruder. Ich zeigte ihm gerade genug, mit sorgfältig ausgewählten Bildern, dass er mich finden konnte. Dann setzte ich mich unter eine Eberesche und wartete. Er kann nicht so weit weg gewesen sein. Bevor die Sonne ihren Höchststand erreicht hatte, hörte ich Hufschlag auf der Straße, und dann war Sean da, sprang vom Pferd, umarmte mich fest und sah mir suchend in die Augen. Aber ich bewachte meine Gedanken sorgfältig. Ich hatte ihn erreicht, aber ich hatte ihm nichts erzählt. Nach einer Weile bemerkte ich, dass auch Eamonn da war und mehrere seiner Männer. Eamonn sah seltsam aus, seine Augen glitzerten, sein Gesicht war bleich. Er umarmte mich nicht, das wäre nicht angemessen gewesen, aber seine Stimme bebte, als er mich grüßte.
»Liadan! Wir dachten – bist du verletzt? Hat man dir etwas getan?«
»Es geht mir gut«, sagte ich müde, als die Männer in Grün ihre Pferde hinter ihm zum Stehen brachten.
»Du siehst nicht gut aus«, meinte Sean. »Wo warst du? Wer hat dich mitgenommen? Wo bist du gewesen?« Mein Bruder wusste, dass ich ihn aus meinem Geist fern hielt, und benutzte alle Tricks, die er kannte, um mich dazu zu bringen, mich ihm zu öffnen.
»Es geht mir gut«, sagte ich abermals. »Können wir jetzt nach Hause gehen?«
Eamonn sah mein Pferd an und dann den langen, weiten grauen Umhang, den ich trug, den Umhang eines Mannes. Er runzelte die Stirn. Sean sah mir ins Gesicht und bemerkte meine blutigen Hände.
»Wir werden nach Sidhe Dubh reiten«, erklärte er ernst. »Dort kannst du dich ausruhen.«
»Nein!«, sagte ich ein wenig zu heftig. »Nein«, fügte ich vorsichtiger hinzu. »Nach Hause. Ich will jetzt nach Hause.«
Die beiden Männer wechselten einen Blick.
»Es wäre vielleicht besser, wenn du mit deinen Männern vorausreitest«, sagte Sean. »Sag Iubdan Bescheid. Er wird uns entgegenkommen wollen. Wir ruhen am Weg und lassen uns Zeit.«
Eamonn nickte und ritt ohne ein weiteres Wort davon. Die Männer in Grün folgten ihm. Nun waren nur noch mein Bruder, zwei Bewaffnete und ich übrig.
Auf dem ganzen Heimweg stellte Sean ununterbrochen Fragen. Wo war ich gewesen? Wer hatte mich entführt? Warum erzählte ich es ihm nicht – verstand ich denn nicht, dass er Rache nehmen musste, wenn man mir irgendwelchen Schaden zugefügt hatte? Hatte ich vergessen, dass er mein Bruder war? Aber ich sagte nichts. Bran hatte Recht gehabt. Man durfte niemandem vertrauen. Nicht einmal denen, die einem am nächsten standen.
Also ritt ich auf dem Pferd des Bemalten Mannes zurück nach Sevenwaters, und sein Umhang hielt mich warm. Ich hatte ein Halsband aus Wolfskrallen in meiner Tasche und Blut an den Händen. So viel dafür, dass ich Dinge ändern könnte. So viel für das Feenvolk und uralte Stimmen und Visionen des Todes. Was war ich anders als eine weitere machtlose Frau in einer Welt von Männern, die nicht nachdachten? Nichts hatte sich verändert. Überhaupt nichts, außer tief drinnen, wo niemand es sehen konnte.
KAPITEL 7
Am Tag nach meiner Heimkehr machte ich eine Kerze. Daran war nichts Bemerkenswertes; so etwas gehörte zu den regelmäßigen Arbeiten im Haushalt. Aber ich hätte mich eigentlich ausruhen sollen. Mutter überprüfte mein Schlafzimmer, stellte fest, dass der Boden sauber gefegt und die Decke ordentlich war, und kam dann zu mir in meinen Arbeitsraum. Sie sah, dass meine Lippen geschwollen waren, aber wenn sie Bissspuren an meinem Hals entdeckte, machte sie jedenfalls keine Bemerkung darüber. Stattdessen beobachtete sie meine Hände, als ich eine Seite des Bienenwachses methodisch mit einem kunstvollen Muster aus Spiralen und Wirbeln überzog. Die andere Seite war leer. Ich sagte nichts. Als ich mit meiner Arbeit zufrieden war, steckte ich diese Kerze in einen Halter und band um ihren Fuß das Lederband mit den Wolfskrallen und eine kleine Blütengirlande, die ich gemacht hatte. Schließlich sprach meine Mutter.
»Das ist ein mächtiges Amulett. Hartriegel, Schafgarbe und Wacholder. Apfel und Lavendel. Und sind das die Federn von einem Rabenflügel? Wo wird diese Kerze brennen, Tochter?«
»An meinem Fenster.«
Mutter nickte. Sie hatte mir keine wirklichen Fragen gestellt.
»Dein Leuchtzeichen ist mit Schutzkräutern und Liebeskräutern umgeben. Ich verstehe seinen Zweck. Vielleicht ist es gut, dass dein Vater und dein Bruder das nicht verstehen. Du hast dich von Sean abgeschlossen. Das tut ihm weh.«
Ich schaute sie an. Sie sah besorgt aus, aber ihr Blick war
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