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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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verriet, konnte ich mich vielleicht ein wenig länger zusammennehmen.
    Ich riss mich zurück und spürte, wie mir überall Schweiß ausbrach. Mein Herz raste. Niamh regte sich nicht. Sie hatte nicht gespürt, dass ich in ihre Gedanken geschaut hatte. Ich zitterte vor Empörung. Verflucht sollte mein Onkel Finbar sein! Ich hätte lieber nie erfahren, dass ich dazu in der Lage war, ich würde diese Gabe nur zu gerne zurückgeben an die, die sie mir geschenkt hatten, und nähme stattdessen eine praktische Fähigkeit wie die zum Fischefangen oder zum Addieren von Zahlen. Nicht die Kunst, die innersten Gedanken von Menschen zu lesen, nicht das Verständnis ihrer geheimsten Schmerzen. Niemand sollte über ein solch gefährliches Talent verfügen.
    Nach einer Weile gab ich zu, dass ich meinem Onkel gegenüber ungerecht war. Er war weise gewesen, mich zu warnen. Außerdem war dies nicht das erste Mal. Was war mit jener Nacht, als Bran schaudernd nach meinem Arm gegriffen hatte, so fest, dass er ihn mir beinahe brach, und ich gehört hatte, wie ein Kind darum flehte, nicht allein gelassen zu werden? Ich hatte auch seinen Schmerz geteilt und versucht, ihm zu helfen. Selbst nachdem er mich abgewiesen hatte, entzündete ich immer noch die Kerze, hielt ich immer noch in Zeiten der Dunkelheit Wache und trug sein Bild in meinen Gedanken. Wenn ich diese Gabe besaß, tief verborgene Wunden erkennen zu können, dann musste ich doch auch über die Möglichkeit verfügen, sie zu heilen. Beides kam gemeinsam, so viel hatten Mutter und Finbar mir gesagt. Ich hätte viel dafür gegeben, nie den Rest von dem zu erfahren, was in Niamhs Kopf vorging, was hinter dieser leeren, verschlossenen Miene geschah. Vor meinem geistigen Auge entstanden Bilder, die mich schauern ließen. Aber ich musste es wissen, wenn ich ihr helfen sollte.
    Bewege dich langsam. Bewege dich mit leichtem Schritt wie ein Rebhuhn, das in einem Haselnussdickicht kaum ein Geräusch verursacht. Geh mit leichtem Schritt, sagte ich mir, oder sie würde zu Stücken zerbrechen und es wäre zu spät. Wir hatten Zeit; einen Mond vielleicht, bevor Fionn mit Eamonn zurückkehrte und Niamh uns wieder verlassen musste. Das war lange genug, um – um was zu tun? Ich konnte mir noch nichts vorstellen, aber etwas musste geschehen. Ich würde zunächst die Wahrheit herausfinden und dann einen Plan machen. Aber nicht so rasch, dass ich meine Schwester damit um den Verstand brachte. Als sie sich also direkt nach dem Abendessen entschuldigte und zurück nach oben floh, gab ich ihr ein wenig Zeit, allein zu sein. Ein Mensch konnte nicht allzu viel ertragen, wenn er so angespannt war wie sie. Dieses Gewicht lastete schwer auf mir, und ich war in Gedanken weit weg, als Sean mich ansprach. Aisling war hinaus in die Küche gegangen, und mein Bruder und ich saßen allein bei einem Bier, ein Stück entfernt von den Männern und Frauen des Haushalts.
    »Ich breche morgen Früh auf, Liadan«, sagte Sean leise. »Liadan?«
    »Tut mir Leid, ich habe nicht zugehört.«
    »Hm. Es heißt, Frauen werden so, wenn sie schwanger sind. Wirr im Kopf. Nicht ganz da.« Es war das erste Mal, dass er das Thema ansprach, und sein Tonfall war scherzend, obwohl in seinem Blick eine Frage stand.
    »Du wirst Onkel werden«, erklärte ich ernst. »Onkel Sean. Klingt ziemlich alt, wie?«
    Er grinste, dann wurde er plötzlich ernst. »Ich bin nicht froh über diese ganze Geschichte. Ich glaube, ich habe die Wahrheit verdient. Aber ich stehe unter Befehl, dich nicht zu fragen, und ich werde es nicht tun. Liadan, ich reite morgen nach Norden. Ich kehre nicht gleich nach Hause zurück, noch nicht. Ich sage es dir, weil ich weiß, dass du es für dich behalten wirst. Und irgendjemand muss wissen, wo ich hingegangen bin, falls ich nicht zurückkehre.«
    »Nach Norden«, sagte ich tonlos. »Wohin im Norden?«
    »Ich werde einem Mann einen Vorschlag machen und hören, was er zu sagen hat. Man sollte annehmen, dass du dir den Rest der Geschichte selbst denken kannst.«
    »Das ist keine gute Idee, Sean«, sagte ich und spürte, wie mir kalt wurde. »Du gehst eine zu große Gefahr ein, wenn die Antwort Nein lautet.«
    Sean sah mich ganz direkt an. »Du scheinst sehr sicher zu sein, was diese Antwort angeht. Woher kannst du so etwas wissen?«
    »Du bist in Gefahr, wenn du gehst«, sagte ich schlicht.
    Sean kratzte sich den Kopf. »Ein Krieger ist immer in Gefahr.«
    »Schicke einen anderen, wenn du wirklich entschlossen bist, dich

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