Der Sohn der Schatten
das gewölbte Dach und den alten Ritualstein des großen Hügelgrabes, das uns Zuflucht gewährt hatte in einer Zeit, die mir nun schon so lange vergangen schien. Es waren andere bei ihm, und sie unterhielten sich über etwas, und er war ungeduldig. Ich spürte sein Drängen, die Unruhe, die ihm eine Falte zwischen die Brauen getrieben hatte, die Spannung in seinen Händen. Aber ich konnte ihre Worte nicht hören. Ich tat, was ich immer tat in diesen dunklen Nächten, in denen er, wie ich wusste, vor allem versuchte, wach zu bleiben. Ich versuchte, seinen Geist mit meinem eigenen zu berühren, ihm klar zu machen, dass er nie ganz allein sein würde, jetzt nicht mehr; ihn daran zu erinnern, dass selbst ein Gesetzloser mit keiner Vergangenheit und keiner Zukunft jeden einzelnen Tag gut leben konnte. Aber an diesem Abend mischten sich meine eigenen finsteren Gedanken ein. Meine Sorge um meine Schwester, meine wachsende Angst, weil ich immer noch keine Lösung für mein Problem gefunden hatte, und die Zeit verging. All das geriet in den Weg, und ich wusste nicht, ob ich ihm überhaupt etwas Gutes tat. Ich blieb die ganze Nacht wach. Das zumindest konnte ich für ihn tun. Es war nicht möglich, sein Bild die ganze Zeit in meinen Gedanken zu sehen, aber hier und da erschien es, und ich sah, wie er das Hügelgrab verließ, seine Freunde zurückließ; er stand dort im Dunkeln, starrte seine verschränkten Hände an. Später saß er im Schneidersitz nicht weit von der Stelle entfernt, wo wir unser kleines Feuer mit Tannenzapfen gemacht hatten, als Evan starb und ich ihm seine letzte Geschichte erzählte. Er hatte den rasierten Kopf in die Hände gestützt, und eine kleine Laterne hielt die Dunkelheit fern. Ich bin hier, sagte ich ihm. Ich bin nicht so weit weg. Warte nur ein bisschen länger, und es wird Morgen. Aber ich musste mich sehr anstrengen, diese andere Stimme in mir zum Schweigen zu bringen, jene die laut schrie: Hilfe! Ich brauche dich! Niemand konnte mir hier in Sidhe Dubh helfen. Es schien keinen Ausweg zu geben. Es sei denn … es sei denn, man war eine Katze.
Es war den Versuch wert, sagte ich mir, als ich leise durch den Ausgangstunnel schlüpfte, gleich nach dem Morgengrauen. Was ich im Wald von Sevenwaters gelernt hatte, diente mir jetzt gut. Ich nahm an, dass ich ungesehen an den Wachen vorbeikam. Ich brauchte die Laterne, denn der Seitentunnel war schmal und der Boden unregelmäßig. Ich ging an den leeren Zellen vorbei, spürte wieder den kalten Atem der Angst, der in ihren dunklen Ecken lauerte. Ich ging weiter abwärts, und der Weg wurde schmaler und steiler, und Wasser rieselte die Wände herunter, so dass ich in einem kleinen Rinnsal lief. Und dann verschwand das Wasser abrupt und gurgelnd im Boden, und der Weg schien zu Ende; es war eine Mauer direkt vor mir, obwohl immer noch von irgendwoher Licht einfiel. Eine Sackgasse. Aber die Katze war hereingekommen. Ich stellte die Laterne ab und beugte mich nach vorn, berührte die Mauer mit den Fingerspitzen. Mein Schatten ragte vor mir auf, riesig im Laternenlicht. Und dann hörte ich sie: vertraute Stimmen, leise, tief, so tief, dass ich sie fast nicht hören konnte. Worte, die so langsam gesprochen wurden, dass sie uralt wirkten, als kämen sie aus den Steinen selbst. Nein, sie waren nicht alle geflohen, als die Menschen hier eintrafen; sie waren einfach tiefer in den Boden gezogen und warteten dort. Ich stand still und lauschte und wartete, was sie von mir wollten. Weiter unten.
Ich hockte mich auf den Boden und fragte mich, wonach ich suchen und wonach ich tasten sollte. Eine Falltür? Ein Geheimweg? Irgendeine Art Zeichen?
Weiter unten.
Denk nach, Liadan, sagte ich mir schaudernd. Ich bewegte mich über den Steinboden, folgte dem Sockel der Mauer mit der Hand und tastete nach einem Zeichen, einem Hinweis darauf, was ich tun sollte.
Gut. Gut.
Meine Hand hatte etwas berührt, einen Metallgegenstand, der unter einem vorstehenden Stein eingeklemmt war. Ich schloss die Finger darum. Es war ein Schlüssel, groß, schwer, kunstvoll gearbeitet. Ich kam wieder auf die Beine. Das Laternenlicht zeigte mir dasselbe ungebrochene Stück Fels, dieselbe glatte Mauer auf beiden Seiten. Es gab kein Zeichen irgendeiner Tür. Ich hob die Laterne hoch, hielt sie tief, untersuchte jede Oberfläche. Ich fand nicht das kleinste Anzeichen einer Öffnung, keinen Riss, keine Ritze, in die dieser Schlüssel hätte passen können. Ich verlor die Hoffnung wieder.
Geh
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