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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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flackerte auf, und ein schimmernder Pfad erschien vor dem kleinen Schiff, glitzernd auf der dunklen Oberfläche des Sees. Weiter oben am Ufer stand ein einzelner Flötenspieler bereit. Ich bekam eine Gänsehaut, als sich die Stimme der Flöte über die einsamen Bäume erhob, über das stille Wasser und hinauf in die Nacht.
    »Es ist Zeit«, sagte Conor leise. Dann legten wir alle eine Hand ans Heck des kleinen Bootes; mein Vater stand zwischen Liam und Conor. Wir schoben das Boot sanft an, aber es war kaum notwendig. Das Wasser bewegte sich bereits am Bug, als könne das Boot es kaum abwarten, sich auf seine Reise zu machen, und als es sich vom Ufer löste, griff die Strömung danach. Ich konnte schmale, bleiche Hände sehen, die sich aus dem Wasser reckten und das Boot meiner Mutter auf den Weg führten. Und leise Stimmen sangen ihren Namen: Sorcha, Sorcha.
    »Leb wohl, kleine Eule«, sagte Conor mit einer Stimme, die ich kaum erkannte. Und Finbar schob seinen dunklen Umhang zurück und breitete seinen einzelnen Flügel so aus, dass die wunderschönen, schimmernden Federn rosa und orangefarben und golden im Fackellicht glänzten, und winkte ihr damit zum Lebewohl. Aber mein Vater stand reglos da, erstarrt in seiner Trauer, während das Klagelied der Flöte sich über den Wald erhob.
    Ich strengte meine Augen an, um sie so lange wie möglich im Blickfeld zu behalten, denn auch ich trauerte, obwohl ich wusste, dass meine Mutter nicht von uns gegangen war, sondern nur weitergezogen war zu einem anderen Leben, einer anderen Drehung des Rades. Sie hatte es so gewollt. Warum willst du nicht im Herz des Waldes ruhen, wo du hingehörst?, hatte Conor gefragt. Warum bleibst du nicht hier in Sevenwaters?, hatte Liam gesagt, denn du bist die Tochter des Waldes? Aber Padraic hatte gemeint, es sei Sorchas Entscheidung. Und am allermeisten hatte sie sich gewünscht, den Weg diesen Fluss entlang zu nehmen, auf seiner Strömung vom See weggetragen zu werden, wie es vor langer Zeit schon einmal geschehen war. Denn, so hatte sie lächelnd erklärt, dieses Wasser hatte sie ganz zufällig in die Arme eines rothaarigen Briten getragen, und war er nicht ihre wahre Liebe und die Freude ihres Herzens gewesen? Also würde sie diesen Weg wieder wählen und sehen, wohin er sie führte. Ich stand da und starrte ins Dunkel hinaus, während die Flöte schluchzte und eine Eule in der Nacht rief.
    Die Menschen begannen, zurück zum Haus zu gehen. Mein Vater mit gesenktem Kopf, begleitet von den Onkeln. Sean Hand in Hand mit Aisling. Janis und ihre Helferinnen eilten sich, die letzten Vorbereitungen für das Essen zu treffen, denn ein gutes Festessen mit Musik ist ein wichtiger Teil eines solchen Abschieds. Ich ging zu dem Flötenspieler, um ihm zu danken. Er war ein Mann mit beinahe magischen Fähigkeiten, denn sein Klagelied hatte meine innersten Gedanken widergespiegelt, seine Melodie hatte Sorchas Bild heraufbeschworen, ihre Geisteskraft und ihre tiefe Liebe für den Wald und seine Bewohner.
    Der Flötenspieler packte sein Instrument ordentlich in einen Beutel aus Ziegenleder. Er war ein schlanker Mann mit dunklem Bart und einem kleinen Goldring im Ohr. Sein Helfer, höher gewachsen und mit einem Kapuzenumhang, hielt ihm die Tasche auf. Der Flötenspieler nickte mir höflich zu.
    »Ich wollte dir danken«, sagte ich. »Ich weiß nicht, wer dich eingeladen hat, hier zu spielen, aber es war eine gute Wahl. Deine Musik kommt aus dem Herzen.«
    »Danke, Herrin. Eine große Geschichtenerzählerin wie deine Mutter verdient ein angemessenes Lebewohl.«
    Er hatte die Flöte eingepackt.
    »Ihr seid eingeladen, zu Essen und Bier ins Haus zu gehen«, sagte ich ihm. »Habt ihr einen weiten Heimweg?«
    Der Mann grinste schief. »Es ist ein ordentlicher Weg«, sagte er. »Und ein Bier würde nicht schaden. Aber …« Er warf einen Blick auf seinen schweigenden Begleiter. Erst jetzt bemerkte ich im Halbdunkel den großen schwarzen Vogel, der auf der Schulter dieses Mannes saß und die Krallen festklammerte, das scharfe Auge abschätzend auf mich gerichtet. Ein Rabe. »Mir scheint«, meinte der Flötenspieler, und machte sich in Richtung des Hauses davon, als wäre eine Entscheidung zwischen den beiden wortlos gefallen, »dass ein Krug oder zwei nichts schaden könnte. Und ich muss ein wenig mit Tantchen reden. Ich kann kaum in diese Gegend kommen, ohne das zu tun, das würde sie mir nie verzeihen.«
    »Tantchen?«, fragte ich, und ich musste mich beeilen, um

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