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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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Haushalt und die wilden Geschöpfe von See und Wald einen Augenblick lang den Atem an. Dann begann mein Vater wieder mit der Geschichte.
    »Tobys kleine Töchter wuchsen zu zwei schönen Frauen heran, und mit der Zeit nahmen sie selbst Ehemänner, und heute gibt es viele Menschen in dieser Gegend mit dunklem, lockigem Haar wie Algen und Augen, die sehr weit sehen können, und einer großen Begabung zum Schwimmen. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.« Er zögerte wieder, starrte ins Leere, und ich sah, wie sich seine Hand um die Schulter meiner Mutter klammerte.
    »Was Toby selbst angeht«, sagte ich, denn ich wusste, dass jemand anders die Geschichte für ihn beenden musste, »er hatte geglaubt, dass sein Leben vorüber war, als er sie verlor. Er hatte es für ein Ende gehalten. Auf seine Weise war es das auch. Aber das Rad dreht sich und dreht sich weiter, und jedes Ende ist ein neuer Anfang. So war es auch mit ihm.«
    »Er ging jeden Tag zum Meer und setzte sich auf die Felsen und schaute nach Westen über das Wasser hinaus«, griff Conor mit seiner leisen ausdrucksvollen Stimme die Geschichte auf, »und manchmal, nur manchmal holte er seine Flöte heraus und spielte ein paar Töne, ein Teil eines Tanzlieds oder den Refrain einer alten Ballade, an die er sich erinnerte.«
    Padraic stand neben seinem Bruder; er hatte den Arm um Samara gelegt. »Er hielt wieder und wieder nach ihr Ausschau«, sagte Padraic, »aber das Seevolk zeigt sich den Menschen selten. Und dennoch, manchmal in der Abenddämmerung glaubte er draußen im Wasser anmutige Gestalten im Zwielicht schwimmen zu sehen, weiße Arme, langes Haar und schimmernde Schwänze mit edelsteinglitzernden Schuppen. Er glaubte zu sehen, dass sie ihn mit bittenden Augen ansahen wie seine Töchter, Augen, in denen der wilde Ozean stand.«
    »Dann ging er nach Hause«, sagte Liam, der jetzt auf der anderen Seite des Bettes neben Sean stand, »und wenn er hereinkam, zündete er nicht seine kleine Laterne an, sondern er ließ die Tür auf, und das Mondlicht fiel in die kleine Hütte, in der er lebte. Und manchmal saß er auf der Treppe vor der Tür und schaute auf den schimmernden Weg hinaus, den der Mond aufs Wasser warf, und fragte sich, wie es wohl sein würde, in der Tiefe des großen Ozeans zu leben, ein Kind von Manannán mac Lir.«
    »Am Ende wusste niemand, was aus ihm geworden war.« Ich konnte an Seans Stimme hören, dass er geweint hatte, aber wie alle anderen sprach er mit fester Stimme weiter. Es kam mir vor, als wäre er in diesen letzten Monden rasch erwachsen geworden. »Man sah ihn manchmal im Dunklen an der Küste, spät bei Nacht. Andere erzählten, sie hätten gesehen, wie er aufs Meer hinausgeschwommen sei, weit, weit über die sicheren Bereiche hinaus und stetig nach Westen. Seine Töchter waren bei ihrer Großmutter. Die Hütte war ordentlich aufgeräumt, alles, wie es sein sollte. Aber eines Tages war er einfach nicht mehr da.«
    »Und sie erzählen, wenn man in dieser Gegend weilt«, sagte Finbar, der immer noch am Fenster stand, mit dem Rücken zu uns, »dass man ihn manchmal sehen kann, kurz vor Mitternacht, wenn der Mond voll ist. Wenn man leise zum Strand geht und sich sehr still auf die Felsen dort setzt, hört man Spritzen und Platschen und Unruhe im Wasser, und man sieht das Seevolk, wie es dicht am Rand zwischen Ozean und Land spielt. Die Leute sagen, Toby sei bei ihnen, sein weißer Körper silbern im Mondlicht, und das Wasser umschmeichelte ihn wie die feinen Schuppen eines Fischs. Aber ob er Mensch ist oder ein Geschöpf der Tiefe, wusste keiner zu sagen.«
    Sie war gegangen. Das wussten wir alle. Aber niemand regte sich. Niemand sprach. Mein Vater hielt sie immer noch in seinen Armen, als könnte er diesen letzten Augenblick des Lebens bewahren, solange er sich nicht regte. Er hatte die Lippen an ihrem Haar und die Augen geschlossen.
    Draußen wurde der Wind stärker und schickte eine Bö kühler Luft durchs Fenster, wischte Finbars dunkle Locken aus seiner Stirn und bewegte die weißen Federn an seiner Seite. Und dann begannen in den Bäumen die Vögel wieder zu singen, ihr Zwitschern erhob sich, mischte Gruß und Lebewohl, Feier und Trauer zur Stimme des Waldes selbst, der Sorchas Dahingehen grüßte.
    Sie hatte nicht bis zum Abend gelebt. Vielleicht war das ihr Wille gewesen. Als wir schließlich im Stande waren, uns zu bewegen, als wir uns dazu zwangen, uns zu bewegen, küssten wir nacheinander ihre Wange, berührten ihr

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