Der Sohn der Schatten
alles andere versagt hat und du ohne jede Hilfe bist und Körper und Geist das Ende ihrer Kraft erreicht haben, dann schicke ihn aus. Ein solcher Bote sollte nicht leichten Herzens gesandt werden.«
»Ich verstehe«, sagte ich, aber ich verstand gar nichts. Was war dieses Geschöpf – der Vertraute eines Zauberers? Ich hatte so viele Fragen, so viele.
»Ich muss gehen.« Ciarán schien plötzlich ruhelos, als hätte sich sein Geist schon vor seinem Körper in die Ferne bewegt. »Ich darf nicht lange wegbleiben.«
»Aber es ist ein langer Weg nach Kerry«, meinte ich. »Von einem Vollmond zum nächsten und länger, oder?«
»So ist es auf dem Weg, den Dan vorziehen würde, auf dem Pferderücken oder zu Fuß«, sagte Ciarán. »Aber es gibt andere Möglichkeiten.«
»Ich verstehe«, sagte ich abermals und musste an alte Geschichten über Druiden und Zauberer denken. Ich fragte mich, wie viel er in diesen achtzehn Jahren gelernt hatte, und wie viel mehr, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte.
»Dann lebe wohl«, sagte er ernst.
»Ich hätte es getan«, brach es aus mir heraus, denn er musste es wissen, und meine Schwester musste wissen, dass ich nicht so kaltherzig war, wie sie glaubten. »Selbst wenn man mir gesagt hätte, wer du bist und warum es verboten war, hätte ich ihr immer noch geholfen. Ich liebe sie. Wenn sie bei dir ist, trotz allem, dann ist es vielleicht auf gewisse Weise richtig. Vielleicht ist es auf gewisse Weise das, was es sein soll, Gesetz oder nicht.«
Ciarán nickte. »Auf die eine oder andere Weise wird es weitergehen«, sagte er und klang wieder wie ein Druide. Und als hätte er ihn gerufen, obwohl es keinen Ruf gegeben hatte, den ich bemerkt hätte, erschien Dan Walker im Bogengang zum Garten, leise vor sich hin pfeifend.
»Gehen wir?«, fragte er sachlich. Und bevor ich noch ein Wort sagen konnte, bewegte sich Ciarán wie ein Schatten, und beide waren verschwunden. Ich folgte ihnen ein Stück und spürte das Gewicht des unerwarteten Geschenks auf meiner Schulter und seine Krallen in meiner Haut. Ich kam auf den Weg hinaus und schaute an der Hecke entlang zum Waldrand. Aber es war niemand mehr zu sehen.
***
Die Leute gewöhnten sich mit der Zeit an den Raben.
»In der Nähe des Kleinen solltest du auf den Raben aufpassen«, warnte mich Janis, die sich vielleicht verantwortlich fühlte, da ihr Neffe etwas mit seiner Ankunft zu tun gehabt hatte. »Man kann einem Geschöpf mit einem solchen Schnabel nicht trauen. Und du weißt, was sie über Raben erzählen.«
Aber am Ende sollte sich herausstellen, wie sehr sie sich geirrt hatte. Was das Kind anging, war der Vogel von vorbildlichem Verhalten. Wenn Johnny schlief, blieb er in der Nähe, bewachte ihn gut und hielt den Schnabel. Wenn der Kleine wach war und nach seinem Essen schrie, hatte der Rabe eine Tendenz, mitzumachen und seine kräftige Stimme der des Kindes zuzugesellen und auf diese Weise dafür zu sorgen, dass er noch rascher beachtet wurde. Wenn ich am See entlangging, um die neuen Schwanenküken zu bewundern oder im Wald unter dem Dach der Buchenzweige meinen Sohn in meinen Armen wiegte, begleitete mich der Rabe, schoss wie ein dunkler Schatten von einem niedrigen Ast zum anderen und war nie weit von mir und meinem Kind entfernt. Ich begann, mich an seine Anwesenheit zu gewöhnen. Er war wie ein gut erzogener Wachhund, der mich mit seinem lauten Krächzen darauf aufmerksam machte, wenn sich eine Gruppe von Waldarbeitern oder ein Wildschwein näherte. Ich nannte ihn Fiacha, ein Name, der ›kleiner Rabe‹ bedeutet.
Wozu er gut sein sollte, konnte ich nicht recht begreifen. Ein- oder zweimal versuchte ich im Geist, mit dem Geschöpf zu sprechen, aber ich erschöpfte mich ohne jedes Ergebnis. Vielleicht würde ich, wenn die Zeit gekommen war, wissen, was zu tun wäre. Falls die Zeit kommen würde.
Es gab so viele Gerüchte und Vorzeichen und halb gare Theorien, dass es schwierig war, die Wahrheit zu finden oder auch nur zu raten, was die Zukunft bringen mochte. Jene, die meinen schwangeren Bauch berührt hatten, weil das Glück bringen sollte, und Johnny für ein Kind der Anderwelt hielten, warfen Fiacha nun Seitenblicke zu und beäugten mich schüchtern und murmelten etwas von der Prophezeiung. Es war ein Zeichen, sagten sie. Meine Familie versuchte nicht, diesen Fantasien entgegenzuwirken. Wenn die Leute glaubten, dass ich tatsächlich einmal die Gefährtin eines der Túatha De gewesen war, sparte das einem zumindest
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