Der Sohn der Schatten
die Erklärungen.
Ich habe in meinem Leben viele Geschichten gehört und selbst einige erzählt. Das hat mich eines gelehrt: Wenn es Ereignisse gibt, die den Lauf der Dinge ändern, dann verursachen sie Veränderungen, die weit über das Offensichtliche hinausgehen. Es ist, als würfe man einen kleinen Stein in einen Teich, der einen immer größeren Kreis von Wellen verursacht, die sich über die Wasseroberfläche ausbreiten. Dieses kleine Ding war eine Lüge, oder genauer gesagt eine zurückgehaltene Wahrheit. Conor und Liams Lüge. Selbst meine Eltern hatten von diesem geheimen Bruder gewusst. Die Familie hatte eine der Ihren angelogen. Und niemand hatte es ausgesprochen, weil es so schrecklich war, so gefährlich auf eine Weise, die ich nur halb verstand, dass sogar Niamh, deren Leben durch ihre Auswirkungen zerstört wurde, die Wahrheit nicht hatte erfahren dürfen. Ich glaubte nicht, dass ich danach einem von ihnen jemals wieder vollständig vertrauen konnte. Alles war aus dieser Lüge entstanden: wahre Liebe, zerstörte Hoffnung, Grausamkeit, Missbrauch, Flucht und für Ciarán selbst sein Abstieg in eine Finsternis, die das Wesen unserer Existenz zu bedrohen schien. Für mich und meine Familie brachte es den Verlust der Offenheit, den Bruch von Vertrauen. Abschiedsgrüße, die zu spät ausgesprochen wurden. Trennungen, die für immer dauerten. Die Lüge hatte das alte Böse wieder erweckt, und nun sah es so aus, als wiche einer nach dem anderen von seinem wahren Weg ab.
Finbar war nicht mehr lange geblieben, nachdem wir Sorcha auf den See hinausgeschickt hatten. Sehr früh am nächsten Morgen war er verschwunden, schlich sich leise in den Wald davon, und nur ich sagte ihm Lebewohl.
»Du weißt, wo ich bin«, sagte er. »Es mag eine Zeit kommen, in der du meine Hilfe brauchst. Dann ruf nach mir.«
»Danke.« Fiacha bewegte sich auf meiner Schulter, den Kopf ein wenig schief gelegt, und sah zu, wie mein Onkel auf die Bäume zuging. »Onkel?«
»Was ist, Liadan?«
»Ich muss dir etwas sagen – ich muss dir sagen, dass ich die Wahrheit über Ciarán entdeckt habe; darüber, wer er ist und warum er weggegangen ist. Und ich möchte dich etwas fragen. Wenn ich etwas über das alte Böse wissen will, und was es bedeutet … würdest du es mir sagen? Würde irgendjemand es mir sagen? Ich habe so viele Warnungen erhalten, und ich höre Stimmen, die mich in diese und jene Richtung reißen, und niemand will etwas erklären. Wenn wir tatsächlich so bedroht sind, wie können wir dagegen ankämpfen, wenn wir es nicht einmal begreifen?«
Finbar starrte mich an. »Du hättest meine Tochter sein sollen, denke ich, denn ich höre meine eigenen Worte aus deinem Mund. Ich selbst hätte es dir längst gesagt, aber Conor hat uns schwören lassen, dass wir schweigen. Du solltest ihn am besten direkt fragen. Ich denke, nun, da unsere Schwester von uns gegangen ist, wird er mit dir über diese Dinge sprechen. Mit unserem Schweigen haben wir versucht, sie vor weiterem Schmerz zu schützen, davor, dass sie zusehen muss, wie die Finsternis wieder entsteht, die das Leben unserer Söhne und Töchter bedroht wie ihr eigenes. Als sie sich der Zauberin widersetzte, glaubte Sorcha, dass das Böse für immer verschwunden war, aber wir hatten es nicht besiegt, sondern uns nur einen Aufschub erkämpft. Sprich mit Conor. Erzähl ihm von deinen Befürchtungen und frag ihn nach der Wahrheit.«
»Das werde ich tun, Onkel. Ich danke dir. Du bist immer offen zu mir, und dafür achte ich dich.«
»Leb wohl, Liadan. Lass dein Licht weiter leuchten.«
Damit ging er. Später an diesem Morgen ließen sie die Hunde wieder frei.
***
Mein Vater machte sich am selben Tag auf den Weg und überraschte uns damit alle. Ich hatte gewusst, dass er sein Versprechen halten würde, denn er war immer ein Mann gewesen, der sein Wort hielt. Aber niemand hatte einen so raschen Abschied erwartet, besonders angesichts der Gefahren einer solchen Reise. Er mochte Brite sein, aber er hatte achtzehn Jahre unter den Menschen von Erin gelebt, und es gab keine Garantie dafür, wie seine eigene Familie ihn empfangen würde. Außerdem musste er zunächst überhaupt erst dort hingelangen, über eine Küste hinweg, an der es vor Nordmännern nur so wimmelte, und ein weites Meer voller Banditen und Piraten und unberechenbarer Wilder. Dass er sich allein auf eine solche Reise machte, kündete von einer Veränderung, die über alles hinausging, das von Kummer und Trauer
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