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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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genug. Tragen.«
    »Dann müssen wir jetzt gehen, sobald das Kind satt ist. Es wird rasch dunkel, und offenbar kommt die Hilfe nicht rechtzeitig.«
    Möwe grunzte leise und rollte Bran auf die Seite. »Fertig«, sagte er. »Du musst helfen. Meine Hände sind nicht gut. Jetzt nicht.« Denn es ist tatsächlich fast unmöglich, den Arm eines Mannes zu packen oder eine Falte seiner Kleidung und ihn sich auf den Rücken zu laden, wenn die Hände so schwer verletzt sind wie Möwes. Die geringste Berührung ließ ihn vor Schmerz zusammenzucken.
    Ein Schritt nach dem anderen. Anders ging es nicht. Wir mussten alles ganz langsam machen und nicht zu weit vorausdenken, denn das würde nur dazu führen, dass uns das Herz stehen blieb und der letzte Mut verging. Ich packte Johnny wieder auf meinen Rücken, so fest ich konnte. Im Augenblick war er still. Dann bückte ich mich, um Brans Schultern vom Boden zu heben, damit Möwe seine eigene Schulter darunter schieben und den hilflosen Mann hochhebeln konnte. Möwes Hände waren vollkommen nutzlos. Er konnte einen Arm um Bran legen und mit den Knien schieben, ihn aber weder halten noch packen. Ich verbiss mir die Worte: Wie willst du ihn tragen? Was, wenn er rutscht? Wir ließen ihn dreimal wieder fallen, bevor Möwe schließlich auf die Knie hochkam und dann langsam auf die Beine, seinen Freund über die Schultern balanciert, seinen Kopf links, die Beine rechts, die Arme herunterhängend. Möwe hatte seine eigenen Arme nach oben gebogen, die verletzten Hände zeigten starr in ihren blutigen Verbänden in die Luft. Von den Zinnen droben erklang höhnischer Applaus.
    »Gut«, sagte ich ermutigend. »Das ist wirklich gut, Möwe. Jetzt müssen wir gehen.«
    Viele Vögel zwitscherten nun draußen über dem Ödland; sie ließen sich für die Nacht in den Ecken dieses feindseligen Landes, das sie ihr Zuhause nannten, nieder. Die untergehende Sonne färbte die Pfützen offenen Wassers so rot wie Blut.
    »Jetzt gehen«, sagte Möwe, und wir sahen einander an und wandten dann die Blicke ab. Ich sah die Wahrheit in seinen fieberglänzenden Augen. Wir gingen in den Tod.
    »Ich denke, auf der anderen Seite brauchen wir etwas sehr Starkes zu trinken«, sagte ich. Meine Worte klangen zuversichtlich; es war das Zittern in meiner Stimme, das mich verriet.
    Dann machte Möwe den ersten Schritt in den Sumpf hinaus, sehr vorsichtig, mit bloßen Füßen von einem Grasbüschel zum nächsten, nach rechts, dann wieder rechts, dann links. Und ich folgte ihm, die Röcke in den Gürtel gestopft, das Kind immer noch gnädig ruhig. Ich spürte, wie mir überall kalter Schweiß ausbrach; ich hörte das rasche, unregelmäßige Geräusch meines eigenen Atems, spürte das Klopfen meines Herzens. Ein Schritt, dann noch einer. Wir bewegten uns langsamst vorwärts, so langsam, dass ich nicht wagte, zurückzuschauen und die Entfernung einzuschätzen, in der ein Bogenschütze noch im Stande war, bei Fackellicht sein Ziel zu finden. Und dann kamen wir an eine Stelle, wo die Büschel von Vegetation weiter entfernt waren, ein Schritt für einen Mann oder eine langbeinige Frau wie meine Schwester Niamh. Für mich ein Sprung. Ich zögerte, während Möwe sich weiterbewegte. Ich konnte nicht sagen: Warte, sonst hätte ich ihn erschreckt, und er hätte stolpern können. Rasch, Liadan, sagte ich mir. Oder du wirst ihn aus dem Blickfeld verlieren, und dann … ich sprang und landete ungeschickt und rutschte auf dem feuchten Gras. Ich streckte die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten. Rings um mich her, im dunklen Schlamm der Marschen, gab es kleine saugende und ploppende Geräusche – gierige Geräusche. Möwe kam stetig vorwärts, wenn auch sehr langsam. Ein Schritt, Pause, dann wieder ein Schritt. Er war unter Brans Gewicht vorgebeugt; es musste ihm schwer fallen, den Weg zu finden.
    »Liadan?« Seine Stimme war in dieser Leere seltsam körperlos.
    »Ich bin hier.«
    »Fast dunkel.«
    »Ich weiß.« Später würden wir, wenn es keine Wolken gab, ein wenig Licht haben. Aber der Mond war im Abnehmen begriffen, zu schwach, zu spät. »Wir müssen weiter, so gut wir können.«
    Er antwortete nicht, sondern bewegte sich weiter vorwärts, und ich konnte sehen, wie seine nackten Füße auf der unvorhersehbaren Oberfläche balancierten, die Zehen sich bogen, die Füße das Körpergewicht abfingen. Ich konnte sehen, wie er selbst mit nutzlosen, verletzten Händen immer noch sorgfältig seine Last hielt, sich nach links oder

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