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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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aufzunehmen, wenn er die Knie ans Kinn gezogen und die Arme über den Kopf gebeugt hatte. Es kam Luft hinein, aber nicht viel. Es gab kein Licht. Keinen Raum, sich zu bewegen. Ein Grab, in dem man eine Weile am Leben bleiben konnte. Wie lange, das hing davon ab, wie viel Kraft jemand tief in sich fand. Wenn man ihn hin und wieder herausholte, ihm zu essen gab und ihn Luft holen ließ, bevor man ihn zurücksteckte, konnte er eine ganze Weile überleben und Unterhaltung bieten.
    »Bran?« Es war dumm von mir, eine Antwort zu erwarten. Er schien tot zu sein, sein Gesicht war geisterhaft bleich, und er regte sich nicht. »Holt diesen Mann heraus. Schnell.«
    Sie taten es, denn sie hatten den Befehl erhalten, mir zu helfen, zumindest bis zu einem bestimmten Punkt. Aber niemand hatte ihnen Sanftmut befohlen, und bis sie die schlaffe Gestalt aus dem winzigen Loch gezerrt und mir zu Füßen geworfen hatten, hatte Bran noch ein paar mehr blaue Flecken als zuvor. Noch immer rührte er sich nicht und lag zusammengerollt da. Ich kniete mich neben ihn, und Möwe hockte sich mit einem leisen Fluch dazu.
    »Er lebt noch«, sagte ich und tastete mit den Fingern an der Stelle am Schädelansatz, wo das Blut dünn floss; ich hörte seinen schwachen Atem … so langsam! Die Laterne warf nur wenig Licht, aber ich konnte sehen, dass die Prellungen gewaltig waren und er eine blutige Kruste am Kopf hatte, wo sich neues, weiches braunes Haar über das Muster auf dem Schädel schob.
    »Schlag auf den Kopf«, murmelte Möwe. »Fest. Beinahe … zu viel. Was jetzt?«
    »Wir verschwinden von hier«, sagte ich, während sich Tränen in meinen Augen stauten und meine innere Stimme immer wieder sagte: Atme, Liadan. Sei stark. Sei stark. »Dann sehen wir weiter.« Ich wandte mich den Wachen zu. »Nehmt diesen Mann und tragt ihn. Und tut ihm nicht weh. Ihr habt schon genug Schaden angerichtet. Bringt uns nach draußen.«
    »Schaden? Für einen wie den kann es gar nicht genug Schaden geben«, knurrte der zweite Mann, und sie waren alles andere als vorsichtig, als sie den hilflosen Bran vom Boden hoben und ihn die Treppe hinauftrugen. Wir folgten ihnen, so gut wir konnten. Ich stützte Möwe und trug die Laterne, und schließlich tauchten wir wieder in dem Tunnel auf, wo die Fackeln hell brannten, so hell, dass es meinen Augen wehtat und Möwe eine verletzte Hand vors Gesicht hielt, während schweigende Männer zusahen, wie wir vorwärts taumelten. »Unsere Befehle lauten, euch zum Rand zu bringen und da zu lassen.«
    »Dann solltet ihr es tun«, sagte ich.
    Bran hing schlaff wie ein Sack Getreide zwischen dem Mann, der seine Schultern, und dem, der seine Knie hielt. Sein Kopf baumelte zur Seite. Er hatte Prellungen über Prellungen; es gab keine einzige Stelle an ihm, die nicht verletzt war. Was von seiner Kleidung übrig war, war starr von Blut und Dreck. In diesem Tunnel leuchteten mehr Fackeln, und Johnny plapperte vergnügt.
    »Komm«, sagte ich zu Möwe. »Hier runter. Du weißt wohin. Dann sind wir allein.«
    »Allein«, wiederholte er, und ich fragte mich, wie viel er zwischen dem Fieber und den Schmerzen seiner gefolterten Hände überhaupt verstanden hatte. Man hatte ihm an beiden Händen Finger abgeschnitten, das sah ich; wie viele noch geblieben waren, verbargen die Verbände. »Rüber«, sagte er. »Andere Seite.«
    Wir taumelten durch den Tunnel an den knurrenden Hunden vorbei und wurden auf einem schmalen Pfad, der nicht weit vom Wasser entfernt war, um den Hügel herumgeführt. Ich zwang mich, über die Möglichkeiten nachzudenken. Wenn Bran zu sich kommen würde und laufen könnte … wenn Möwe den Weg finden und das Fieber seinen Geist nicht allzu sehr umwölken würde … wenn Johnny ruhig bleiben und uns nicht ablenken würde … wenn vor Einbruch der Dunkelheit Hilfe käme, dann könnten wir vielleicht überleben und nicht niedergeschossen werden wie Flüchtlinge, die sich der Gerechtigkeit entzogen. Wenn … es gab zu viel Wenn und Aber. Als wir die Nordseite des Hügels erreichten und ich sah, wie niedrig die Sonne bereits am Himmel hing und wie rasch das Tageslicht verging, begriff ich, dass genau das die Wirklichkeit von Brans und Möwes Leben war, dass unsere Existenz aus Augenblicken wie diesen bestand, in denen es unmöglich schien, sich zu retten, und man tatsächlich der Beste sein, Lösungen für die schwierigsten Probleme finden und eine Kraft in sich entdecken musste, die beinahe anderweltlich war, nur um

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