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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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nicht von dort hinunterstürzte, wo er lag; wir würden ihn dann nie wieder auf Möwes Schultern bekommen, denn ein einziger Fehler auf diesem kleinen Stück Boden würde ihn in den saugenden Schlamm fallen lassen.
    »Wir kommen nicht mehr weiter, wie?«, fragte ich Möwe.
    »Weiter.« Er versuchte, die Finger zu biegen, und sog scharf die Luft ein. Er bog prüfend die Ellbogen und ächzte. »Weiter … Keine Wahl. Was sonst?«
    »Wir können den Weg nicht mehr sehen. Und du kannst ihn auch nicht so lange tragen.«
    »Können nicht bleiben. Männer. Fackeln. Weiter … andere Seite.«
    Aber es war dunkel, und wir konnten nicht weiter.
    »Vielleicht solltest du ihn hinlegen.« Mein Herz war kalt, aber ich zwang mich, es auszusprechen, obwohl es mir so vorkam, als würde ich damit zugeben, dass wir versagt hatten. Es war sinnlos, weiterzugehen. Wenn Möwe zusammenbrach, was im Augenblick immer wahrscheinlicher schien, würden die Männer beide sterben. Und das wäre auch mein und Johnnys Ende. Ohne Möwe, der uns führte, konnten wir weder vorwärts noch zurück.
    »Nicht hinlegen. Kann ihn dann … nie wieder heben.«
    »Schon gut. Lass mich eine Weile nachdenken. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit.«
    »Männer … Fackeln«, wiederholte Möwe nun mit kaum hörbarer Stimme.
    »Sie würden doch nicht versuchen, den Sumpf im Dunkeln zu überqueren, um uns zu verfolgen.« Eamonn hatte nur gesagt: Wir werden Fackeln entzünden und Wir werden schießen. Nichts darüber, dass sie uns verfolgen wollten. »Oder?«
    »Hör doch«, sagte Möwe. Und nun hörte ich zwischen Johnnys Schluchzern, dem seltsamen gurgelnden Lied des Sumpfes und dem Quaken der Frösche und dem endlosen Summen der Blut saugenden Insekten die Stimmen von Männern – weit entfernt, aber sie kamen stetig näher. Als ich ins Dunkel zurückspähte, glaubte ich, Lichter erkennen zu können, die sich langsam über die schwarze Oberfläche auf uns zu bewegten.
    »Leg ihn ab«, erklärte ich, »wir können nicht mehr weiter.« Wenn wir schon sterben mussten, dann würde ich beide im Arm halten, Johnny und seinen Vater und seinen besten Freund neben mir. Dann hörte ich es wieder, einen unheimlichen Kontrapunkt zu den kleinen Nachtgeräuschen: dieses entfernte Klagen, das den Geist zu Eis werden ließ.
    »Stark«, flüsterte Möwe. »Stark. Aushalten. Tragen.« Und wieder hob er die Arme und streckte sie, um Brans schlaffen Körper zu stützen. Johnny auf meinem Rücken schwieg plötzlich.
    »Tut mir Leid«, flüsterte ich. »Wir werden selbstverständlich nicht aufgeben. Wie konnte ich so etwas nur denken? Wir haben unseren Auftrag erst halb erfüllt.«
    Dann hörte ich plötzlich ein weiteres Geräusch, ein lautes Krächzen, und diesmal kam es von der anderen Seite. Das Krächzen eines Raben. Mein Herz machte einen Sprung.
    »Vielleicht ist Hilfe da«, sagte ich mit trockenen Lippen. »Vielleicht ist endlich Hilfe da.«
    Nun konnten wir im Norden einen kleinen Lichtball sehen, ein seltsames, flackerndes Ding, das scheinbar rasch auf uns zuflog und mit Fiachas Stimme rief. Näher und näher kam die Erscheinung über die dunkle Oberfläche, und ich hörte Rascheln und Knarren auf ihrem Weg, als veränderte sich der Sumpf selbst, wo sie vorüberflog. Möwe stand stumm neben mir. Was Johnny anging, der schwieg nun, aber er hatte seine Finger fest in mein Haar gekrallt. Es hatte viel zu viel Herumgehüpfe gegeben, sagten mir seine kleinen Hände, und ich sollte lieber dafür sorgen, dass das nicht so weiterging.
    Möwe rief leise etwas in einer fremden Sprache, und ich hauchte: Dana, Mutter der Erde, halte uns sicher in deiner Hand. Denn nun sahen wir, dass das Licht wie eine brennende Fackel in Form eines fliegenden Raben aussah, kein wirklicher Vogel, sondern ein anderweltliches Feuer nach dem Abbild eines Vogels. Und wo dieses Licht über den Sumpf flog, erhoben sich seltsame Pflanzen aus dem Schlamm, mit langen Zweigen und starken Ranken, und verwoben sich mit schlingenden Enden und hängenden Zweigen zu einem schmalen Weg über die Oberfläche; einem Weg, der direkt nach Norden führte, direkt in die niedrigen Hügel und die Sicherheit. Das Licht, das Fiacha war oder vielleicht auch nicht, schwebte darüber und zeigte uns den Weg.
    Ich räusperte mich. »Gut, dass du ihn nicht abgesetzt hast«, sagte ich. »Kommt weiter.«
    »Weiter«, sagte Möwe und trat auf die zart aussehenden Vegetationsbündel, kaum zwei Handspannen breit. Sie knarrten unter

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