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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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kein Zeichen, dass er noch lebte, wenn man von dem schwachen Atem absah. Seine Finger waren schlaff und kalt, und ich zog die Decke darüber, hielt aber weiter seine Hand. Ich fragte mich, ob er irgendwo tief drinnen spüren konnte, dass ich nicht losgelassen hatte.
    Die Männer kamen allein oder zu zweit, lautlos trotz ihrer schweren Stiefel. Die meisten waren bewaffnet. Alle trugen das seltsame Zeichen ihres Berufs, die Häute und Federn und Dekorationen, die ihr Stolz und ihre Identität waren. Alle waren ernst. Sie versammelten sich um den Strohsack, setzten sich hin, hockten sich, standen schweigend da. Es waren nicht alle da; selbst zu solchen Zeiten musste weiter Wache gehalten werden.
    »Also gut«, sagte ich. »Bezweifelt keinen Augenblick, dass er uns hören kann. Er hat eine Kopfwunde, eine sehr schlimme, aber Menschen haben sich von Schlimmerem erholt, und ihr wisst, wie stark er ist. Aber er kann nicht schlucken, und Menschen können nicht lang ohne Wasser leben. Wir müssen ihn aus diesem Schlaf herausholen.«
    »Was, wenn er nicht rauskommen will?« Das war der große Bursche mit dem dunklen Bart, Wolf. Ich hatte ihn zuvor noch nicht sprechen hören, seine Stimme war guttural, sein Akzent schwer.
    »Das ist genau das Problem«, sagte ich. »Er glaubt, es ist nicht wert, zu uns zurückzukehren. Wir müssen ihn vom Gegenteil überzeugen. Er muss wissen, wie sehr ihr ihn schätzt; er muss daran erinnert werden, was für gute Dinge er für euch getan hat, und was es euch bedeutet. Er muss erkennen, was er gegeben hat und was er geben kann. Und das müsst ihr ihm sagen.«
    Sie sahen einander an und rückten unbehaglich hin und her.
    »Wir sind Kämpfer«, sagte Ratte, der Johnny an seiner Schulter hielt und ihm den Rücken tätschelte. »Keine Barden und keine Gelehrten.«
    Ein anderer meinte nervös. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
    »Erinnert ihr euch an die Geschichten, die ich euch erzählt habe?«
    Sie nickten, einige lächelten.
    »Also gut, es ist ganz ähnlich, nur kürzer. Jeder von euch erzählt eine kleine Geschichte, eine Geschichte vom Bemalten Mann. Wir tun es abwechselnd. Und mit euren Geschichten holen wir ihn zurück. Es ist eigentlich ganz einfach.« Ich bemerkte, wie Möwe mich fragend ansah, und befürchtete, dass er wusste, wie künstlich dieses Selbstvertrauen war. Darunter war mir vor Angst, dass wir versagen könnten, eiskalt. Aber in den Gesichtern der Männer stand jetzt ein wenig Hoffnung.
    »Das ist gut«, sagte ein Mann bewundernd. »Dass dir so was eingefallen ist. Das ist wirklich gut. Kann ich anfangen?«
    »Sicher.«
    Es gab viele und sehr verschiedene Geschichten. Einige waren quälend, andere komisch, einige ausgesprochene Tragödien. Es gab die Geschichte, wie Bran Hund aus dem Langschiff gerettet hatte und dass, wie Schlange sagte, der arme Hund, obwohl er nun tot war, sicherlich den Gefallen zurückgezahlt hatte, denn wenn Hund mich an diesem Tag in Little Falls nicht auf den Kopf geschlagen hätte, wäre ich nie dem Bemalten Mann begegnet und es hätte keinen Johnny gegeben. Und, fügte Schlange hinzu, nun, da der Hauptmann mich und seinen kleinen Jungen hatte, müsste er ein vollkommener Dummkopf sein, wenn er nicht aufwachte. Es gab Geschichten aus dem Süden und aus dem Norden, Geschichten aus Britannien und Armorica. Sie wurden erzählt von Nordmännern und Ulstermännern und Galliern. Aber sie hatten eins gemeinsam: In jeder Geschichte ging es darum, wie der Bemalte Mann einem Ausgestoßenen die Hand gereicht hatte, einem Mann, der keinen Ort auf der Welt mehr hatte, an dem er zu Hause war, und ihn willkommen hieß in einer Bande von Kameraden, die Regeln und einen Zweck hatten. Flüsternd erzählte Möwe seine Geschichte, eine Geschichte von Blut und Trauer, von Qual und Verzweiflung.
    »Du hast mich ins Leben zurückgerufen, als ich es beenden wollte. Es war, als hätte deine Hand meine festgehalten, als ich mich der Dunkelheit hingeben wollte. Jetzt bin ich an deiner Stelle. Ich bitte dich, zu uns zurückzukehren. Deine Arbeit ist noch nicht vollständig getan. Wir brauchen dich, Freund. Jetzt bin ich dran, dich zurückzurufen.«
    Den ganzen Nachmittag sponnen wir unser Netz aus Worten. Es war ein gutes, starkes Netz, wie die Männer, die es gemacht hatten. Nun dämmerte der Abend.
    »Hör, was Möwe sagt«, sagte ich und hielt mühsam die Tränen zurück. »Hör auf uns alle.« Ich hatte ihnen gesagt, dass Bran uns hören konnte. Nun bezweifelte ich

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