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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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die Wahrheit meiner eigenen Worte, denn ganz gleich, was ich auch versuchte, ich spürte nicht den geringsten Funken eines Gedankens in ihm, den schwächsten Splitter eines geistigen Blicks. Wenn er nicht bereits gegangen war, hatte er zumindest die gewaltigsten Mauern um sich errichtet.
    »Bran«, sagte ich leise und fuhr mit den Fingern über seine eingesunkene Wange. »Wir lieben dich. Wir sind deine Freunde. Wir sind deine Familie. Komm heraus. Komm zurück von diesem finsteren Ort. Komm aus den Schatten heraus, mein Liebster.«
    Möwe machte eine kleine Bewegung mit seiner verbundenen Hand, und dann kamen einer nach dem anderen die Männer und berührten Brans Arm oder packten seine Schulter, und hier und da sah ich, wie sich einer verstohlen eine Träne wegwischte.
    Als alle bis auf Möwe und Ratte gegangen waren, nahm ich Johnny in die Arme, ging ans Feuer, um ihn zu stillen, und gestattete mir ein paar Tränen. Als ich dort saß, kam Schlange mit Wolf zurück, und sie wechselten Brans Kleidung und wuschen ihn. Während sie arbeiteten, unterhielten sie sich angeregt über einen Waffenschmied im Norden, der einen neuen Prozess des Temperns von Eisen erfunden hatte, und was für ein feines, präzises Schwert er nun herstellen konnte und wie viel eine solche hervorragende Waffe wohl kosten würde. Ich wusste, sie unterhielten sich um des Hauptmanns willen, und erkannte ihre Anstrengungen an. Aber ich war müde, so müde, dass ich beinahe krank davon wurde und unermesslich traurig, und ich schloss die Augen. Dann überfiel mich ungebeten ein Albtraum, Mauern umdrängten mich, vollkommene Dunkelheit, kein Gefühl von Ort und Zeit, kein Laut, bis auf das pochende Herz und das schwere Atmen, und ich hatte Angst – ich hatte Angst, dass Onkel mich wieder schlagen würde, ich konnte noch den brennenden Schmerz im Rücken und meinen Beinen vom letzten Mal spüren und wie weh es getan hatte, als er mich gezwungen hatte, den Stein hoch über den Kopf zu halten … ich war schwach gewesen und hatte ihn fallen lassen, und wenn der Gürtel wehtat, war es mein eigener Fehler, denn man wurde nur bestraft, wenn man nicht stark genug war … meine Nase lief, und ich schniefte, ohne nachzudenken, und mein Herz raste … kein Laut, das war die Regel, kein Laut, oder es gab Ärger … es war schwierig, nicht zu weinen, wenn man sich in die Hosen gemacht hatte und schwitzte und Durst und Angst hatte und niemand kam … wenn man nur wieder und wieder bis zehn zählen konnte … wenn man wartete und wartete, dass sie zurückkam, denn vielleicht, nur vielleicht, wenn ich mutig genug war, würde sie wiederkommen, selbst jetzt …
    Ich kam abrupt wieder zu mir, mein Herz klopfte heftig, mein Kopf pochte. Der Schrecken war echt, als befände ich mich selbst dort in dieser dunklen Kammer, und ich blinzelte und zwang mich, gleichmäßig zu atmen; zwang mich dazu, das stille Wasser des Teiches und die im Zwielicht blaugrauen Weiden zu sehen. Ich spürte das warme Gewicht des Babys in meinen Armen.
    »Liadan?« Möwe war neben mir, seine Züge im verblassenden Licht beinahe unsichtbar. »Alles in Ordnung?«
    Ich nickte. »Ja. Er ist da, Möwe. Nicht weit weg. Er ist direkt unter der Oberfläche und zu verängstigt oder irgendwie zu beschämt, um rauszukommen. Ich weiß, dass er uns gehört hat.«
    »Woher kannst du das wissen?«, fragte Möwe staunend.
    »Ich … ich höre seine Gedanken. Ich teile seine Erinnerungen und Gefühle, wenn er das zulässt. Es ist eine Gabe und ein Fluch. Es könnte mir helfen, ihn zu erreichen und die Mauern niederzureißen, die er um sich herum errichtet hat. Aber ich muss wissen. Ich muss verstehen, was ihn dazu bringt, sich so zu verstecken. Ich denke … ich denke, was immer das war, es ist geschehen, als er noch sehr jung war. Als er noch sehr klein war. Hat er es dir je erzählt?«
    »So etwas tut er nicht. Er lebt nach den Regeln. Keine Vergangenheit, keine Zukunft. Er hat nie ein Wort gesagt. Mir kam es immer so vor, als wäre der Mann schon alt zur Welt gekommen. Ich wünschte, ich könnte helfen.«
    »Schon gut«, sagte ich bedrückt. »Ich muss einfach mein Bestes tun, um ihn zu erreichen. Ich muss heute Nacht mit ihm allein sein. Ich werde Johnny ins Bett legen, dann solltet ihr uns allein lassen. Ihr alle.«
    »Ich werde hier draußen Wache halten.«
    »Ach, Möwe! Mit diesen Händen solltest du dich selbst ausruhen. Du mutest dir zu viel zu. Schlaf wenigstens ein bisschen.«
    »Was ist

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