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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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langer Weg sein, Liadan. Wir können nicht für dich wählen.«
    Erwache. Die Stimme der Erde rief, sang, ächzte tief unter dem Gewicht von Zeitaltern. Erwache jetzt, Krieger.
    Tränen traten mir in die Augen, und ich flüsterte meine Antwort heraus. »Ich werde ihn wecken. Vertraut mir.« Ich wandte mich wieder den hoch gewachsenen Wesen zu, die vor mir im Dunkel standen. »Für mich gibt es nur eine Wahl«, erklärte ich mit fester Stimme.
    »Das Blut deines Sohnes wird an deinen Händen kleben.« Die Stimme des feurigen Herrschers bebte von einem Zorn, der weit über sterbliche Wut hinausging, ein Geräusch wie Donner. Dennoch rührte sich das schlafende Kind nicht. »Du verlangst zu viel. Du verlangst mehr, als du haben kannst.« Er verblasste, bis ich nur noch seinen schwachen Umriss in kleinen Punkten sehen konnte.
    »Es ist eine lange Geschichte«, sagte die Herrin des Waldes. »Wir glaubten, sie wäre einfacher. Aber das Muster verzweigt sich. Wir glaubten nicht, dass die Kinder den Wald verlassen würden. Deine Schwester wurde verdorben. Du bist einfach störrisch. Du hast so viel von deinem Vater. Also müssen wir länger warten, als wir angenommen hätten. Aber du wirst sehen, wie es weitergeht, Liadan. Du wirst sehen, was du heute Nacht über dich gebracht hast.«
    Ich weinte, als auch sie verblasste, weinte, denn ich wusste, was ich tun musste, und weil ihre Worte schreckliche Angst und nagende Schuld hinterließen, die ich versucht hatte zu vergessen, seit ich Sidhe Dubh verlassen hatte, seit ich zum ersten Mal gespürt hatte, dass Bran mich brauchte. Was, wenn ich mich irrte? Was, wenn meine Sturheit meinem Sohn den Tod brachte und die Menschen von Sevenwaters dem Bösen aussetzte? Wer war ich, selbst den Warnungen des Feenvolks zu trotzen?
    Ich spürte etwas. Ein winziges Zucken an meiner Hand, wo sie Brans Hand umklammerte, als versuchte er schwach, seine Finger um meine zu legen. Oder hatte ich mir das nur eingebildet? Nun war seine Hand wieder schlaff und still. Vielleicht hatte sich Johnny geregt, der nun neben seinem Vater auf dem Strohsack lag. Aber ich war sicher, ich war beinahe sicher, was ich gespürt hatte. Ich durfte nicht aufgeben. Ich würde nicht aufgeben. Ich musste wieder von vorne beginnen, jetzt gleich, denn die Zeit verging rasch, und ich glaubte, dass Brans Atem langsamer und flacher war als zuvor; der Atem eines Mannes, der mit stetigem Schritt seinen letzten Weg geht. Die Verhüllte hatte sich zurückgezogen, aber ich spürte, dass sie immer noch dort draußen im Dunkel wartete. Vielleicht konnte sie ja geduldig sein, denn würde sie am Ende nicht ohnehin siegen?
    »Helft mir«, flüsterte ich, und die Stimmen kehrten zurück, tief und sicher. Komm aus dem Schatten, Krieger. Ein Auftrag wartet auf dich. Schreite heraus aus dem Schatten. Wieder schloss ich die Augen.
    ***
    Erzähle … erzähle die Geschichte … da ist der Junge. Er ist jetzt größer. Er hat viele blaue Flecken, weil er geschlagen wird. Er wird geschlagen, weil er böse ist, Abschaum, weil er bestraft werden muss. Onkel sagt das. Wenn Onkel richtig böse wird, schließt er den Jungen in die Kiste. In der Kiste ist es dunkel. Und eng. Immer enger, desto größer er wird. Er lernt, still zu sein. Er zählt im Kopf. Er lernt, nicht zu weinen, nicht zu schniefen, sich nicht zu regen, bis der Deckel wieder aufgeht und Licht hereinkommt, blendend und heftig. Sie ziehen ihn heraus, verkrampft und stinkend, und bestrafen ihn weiter.
    Da ist eine Frau. Der Mann schlägt sie auch, und sie tun diese Sache, das Grunzen, Schieben, Schwitzen. Onkel zwingt ihn zuzusehen. Onkel zwingt ihn, viele Dinge anzusehen. Der Junge sagt sich, dass er es nie tun wird. Es ist eine dunkle Sache, geistlos, tierisch; dunkel wie der Schrecken der Kiste. Wenn er das tut, wird er selbst werden wie Onkel.
    Eine Weile ist ein Hund da. Der Hund kommt in einer dunklen Nacht vorbei und entschließt sich zu bleiben. Er ist räudig, dürr, mit wildem Blick. Der Junge schläft in diesem Winter warm, zusammengerollt neben dem Hund im Stroh der Latrine. Am Tag folgt ihm der Hund, trabt lautlos in seinem Schatten umher.
    An einem schönen Frühlingsmorgen schlägt Onkel den Hund, weil er ein Huhn getötet hat, und der Junge hält das Tier im Arm, als es stirbt. Als der Junge den Hund begräbt, leistet er einen Schwur. Wenn ich ein Mann bin, schwört er, im nächsten Winter oder dem danach, werde ich hier tun, was getan werden muss und weiterziehen. Ich

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