Der Sohn der Schatten
Herausforderung gegenüber und braucht Hilfe. Und er braucht klare Köpfe in seiner Umgebung, erfahrene Männer, die beurteilen können, welchen Verbündeten er trauen kann und welche man im Auge behalten muss. Du musst bald gehen. Aber ich stehe hier ebenfalls vor einer schwierigen Aufgabe, Vater, und auch ich brauche deine Hilfe. Schlange hat die Wahrheit gesagt. Bran liegt im Sterben. Er ist kurz davor, die Hoffnung ganz aufzugeben, denn er hält sich nicht für rettenswert. Er hängt nur noch an einem seidenen Faden. Ich brauche deine Hilfe, diesen Faden intakt zu halten, bis ich seine Hand greifen und ihn zurückziehen kann. Mutter hat dich übers Wasser geschickt, um die Wahrheit herauszufinden. Ich muss wissen, was du entdeckt hast. Du musst es mir jetzt sagen. Schnell.«
»Ich verstehe dein Drängen, Liadan; ich sehe, wie eng du mit diesem Mann verbunden bist, und wie sehr du ihm vertraust. Und ich weiß, dass du weißt, was du tust. Dennoch, du erwartest viel von mir, Tochter. Sind das nicht dieselben Gesetzlosen, die deine Schwester entführt haben? Es stimmt, sie haben mich mit unerwarteter Höflichkeit behandelt. Wenn man sie von dir sprechen hört, könnte man glauben, dass du halb ihre Königin, halb ihre Göttin bist. Aber warum wollten sie mir nichts darüber sagen, wie du hierher gekommen bist, so weit von zu Hause und so bald nach dem Tod deines Onkels? Wie könnte ich unter diesen Umständen nicht um deine Sicherheit fürchten?«
»Diese Männer würden für mich oder für meinen Sohn sterben – jeder Einzelne von ihnen. Wir sind hier in Sicherheit, Vater.«
»Dein Sohn? Johnny ist auch hier? Aber …«
»Bitte, Vater, bitte sag mir, was du entdeckt hast. Ich muss wissen, was mit Bran geschehen ist, was aus seiner Mutter geworden ist. Hast du Margerys Geschichte gehört?«
»Ja, Tochter, und es war eine traurige und schwierige Geschichte. Ich bin dieser Geschichte durch die Siedlungen von Harrowfield gefolgt, achtzehn Jahre lang in die Vergangenheit. Ich kann dir nicht die ganze Geschichte erzählen, aber in Elvington, was nicht weit von Harrowfield hinter den Hügeln liegt, habe ich einen Teil davon entdeckt, der lange geheim gehalten wurde.«
»Sag es mir. Nein, noch besser. Komm mit mir und setz dich zu ihm und erzähl es uns beiden. Er … er glaubt, seine Mutter hätte ihn verlassen, sie hätte ihn zurückgelassen. Das ist all die Jahre eine tiefe Wunde in seinem Geist gewesen. Aber Mutter hat mir gesagt, dass Margery ihren Sohn liebte, und ich kann nicht glauben, dass sie ihn freiwillig allein gelassen hat.«
»Euch beiden erzählen?« Vater schaute verblüfft drein, als wir schließlich neben der reglosen, bleichen Gestalt im Unterstand standen. »Wie kann er uns hören? Dieser Mann hat doch sicher jegliches Bewusstsein der Welt um ihn her verloren. Er ist nicht mehr zu retten. Deine Liebe treibt dich vielleicht dazu, Wunder zu erwarten. Aber Wunder sind selten, Liebes. Ich habe schon öfter Männer in einem solchen Zustand gesehen …«
»Hör auf!«, rief ich. »Hör auf! Wenn du nur von Niederlage und Tod reden willst, hättest du auch nicht herzukommen brauchen! Ich brauche deine Hilfe, keine düsteren Prophezeiungen! Und jetzt erzähl uns deine Geschichte.«
Ich nahm Brans gemusterte Hand in meine und hielt sie an meine Wange.
Vater starrte mich mit seinen hellen blauen Augen an. »Mir ist aufgefallen«, sagte er, »dass die Männer hier in diesem Gesetzlosenlager dir ohne Frage gehorchen. Sie sprechen deinen Namen mit einer Hochachtung aus, die an Ehrfurcht grenzt. Aber die Situation verblüfft mich. Niemand will seine Tochter in einer solchen Situation sehen. Vergib mir die offenen Worte. Ich spreche sie aus, weil ich nicht erleben will, dass man dir wehtut. Das Urteilsvermögen deiner Mutter war ohne jeden Makel. Ich habe ihr nie gesagt, was sie tun sollte. Aber die Entscheidungen, die du triffst, sind … für mich schwer zu begreifen. Ich habe dir allerdings einmal etwas versprochen, und ich habe vor, dieses Versprechen zu halten, obwohl es mir wehtut, dich hier zu sehen.«
»Erzähl die Geschichte.«
»Also gut. Es ist eine Geschichte von Unglück und verlorenen Gelegenheiten, eine Geschichte, die tatsächlich die Behauptung dieses Mannes stützt, dass ich selbst einige Verantwortung dafür trage, was aus ihm geworden ist. Dafür kann ich Wiedergutmachung leisten. Aber die Vergangenheit kann ich nicht ändern, die Geschichte ist bereits geschrieben. Sie begann in
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