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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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bewegte mich leise unter den Weiden, bis die stille Oberfläche des Teichs in Sicht kam. Dann blieb ich erstarrt vor Schreck stehen. Sie hatte mich nicht gesehen. Er auch nicht. Sie hatten nur Augen füreinander, als sie dort standen, bis zur Taille im Wasser, ihre Körper und die Baumwipfel von der Wasseroberfläche widergespiegelt, ihre Haut gefleckt vom Sonnenlicht, das durch die Sommerblätter fiel. Sie hatte die weißen Arme fest um seinen Hals geschlungen; sein Kopf mit den dunkelroten Locken war gesenkt, weil er sie gerade auf die Schulter küsste, und ihr Rücken bog sich in einer primitiven Anmut, als sie auf die Berührung seiner Lippen reagierte. Der lange, schimmernde Vorhang ihres Haars fiel über sie, spiegelte das Gold des Sonnenlichts wider und verbarg nicht ganz, dass sie nackt war.
    Meine Gefühle lagen im Widerstreit. Entsetzen, Angst, der intensive Wunsch, dass ich woanders hingegangen wäre, um meine Kräuter zu sammeln. Das Wissen, dass ich sofort aufhören sollte hinzuschauen. Die vollkommene Unfähigkeit, meinen Blick abzuwenden. Denn was ich sah, war einerseits zutiefst falsch, aber andererseits auch unvorstellbar schön. Das Spiel des Lichts auf Wasser, die Schatten auf der perligen Haut, die Art, wie ihre Körper ineinander verschlungen waren, wie sie so vollkommen ineinander verloren waren – dies war ebenso wundervoll wie zutiefst beunruhigend. Wenn es das war, das ich für Eamonn empfinden sollte, dann hatte ich gut daran getan, ihn warten zu lassen. Es gab einen Punkt, als die Hände des jungen Druiden über den Körper meiner Schwester glitten und er sie anhob, sie drängend auf sich zuzog, als ich wusste, dass ich nicht mehr hinsehen durfte, und mich lautlos unter die Weiden zurückzog und blind nach Hause stürmte, die Gedanken in Aufruhr. Von dem seltsamen Wesen, das mich gelockt hatte, sie zu finden, gab es keine Spur mehr.
    Pech. Der falsche Zeitpunkt. Oder vielleicht hatte es so sein sollen, dass der erste Mensch, dem ich begegnete, ausgerechnet mein Bruder war. Und dass dies auf halbem Weg über die Wiesen geschah, während ich noch deutlich das Bild dieser beiden jungen Körper vor Augen hatte, die sich so eng miteinander verbanden, als seien sie nur ein einziges Geschöpf. Vielleicht hatte das Feenvolk damit zu tun, oder vielleicht war es, wie Niamh später sagte, nur meine Schuld, weil ich sie ausspioniert hatte. Ich habe schon erwähnt, wie es mit meinem Bruder und mir war. Als wir jünger waren, teilten wir oft unsere Gedanken und Geheimnisse direkt, Geist an Geist, und brauchten nicht zu sprechen. Alle Zwillinge stehen einander nahe, aber die Verbindung zwischen uns war viel tiefer; wir konnten in einem Augenblick den anderen herbeirufen, beinahe, als hätten wir einen Teil unseres Geistes gemeinsam besessen, bevor einer von uns die Außenwelt zu sehen bekam. Aber in der letzten Zeit hatten wir uns einem unausgesprochenen Übereinkommen zufolge entschlossen, diese Verbindung zu trennen. Die Geheimnisse eines jungen Mannes, der um seine erste Liebste wirbt, sind zu zart, um sie mit einer Schwester zu teilen. Was mich anging, ich hatte nicht den Wunsch, ihm von meiner Angst um Niamh zu erzählen, oder von meinen Sorgen um die Zukunft. Aber nun konnte ich es nicht verhindern. Denn es ist nun einmal so, dass jene, die einander so nahe stehen wie Sean und ich, spüren, wenn der andere verzweifelt ist oder Schmerz oder intensive Freude empfindet – es fließt derart über, dass der andere es einfach teilen muss. Ich hatte keine Möglichkeit, ihn zu solchen Zeiten fern zu halten, konnte meinen Geist nicht abschirmen. Ich konnte das kleine, kristallklare Bild meiner Schwester und ihres Druiden, wie sie sich im Wasser widerspiegelten, nicht wegschieben. Und was ich sah und spürte, sah mein Bruder ebenfalls.
    »Was ist das?«, rief Sean entsetzt. »Heute? Jetzt?«
    Ich nickte bedrückt.
    »Bei den Dagda, ich werde diesen Burschen mit meinen eigenen Händen umbringen! Wie kann er es wagen, meine Schwester so zu besudeln?«
    Es kam mir vor, als wollte er sofort in den Wald rennen und den Druiden bestrafen.
    »Hör auf! Hör auf, Sean. Mit Zorn wirst du nichts erreichen. Es ist vielleicht gar nicht so schlimm.«
    Er packte meine Schultern, als wir dort mitten auf dem Feld standen, und zwang mich, ihm direkt in die Augen zu sehen.
    Auf seiner Miene spiegelte sich, was ich schon in seinem Geist gelesen hatte – Entsetzen, Zorn, Empörung.
    »Ich kann es einfach nicht glauben«,

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